Führen, wenn keiner da ist
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Montagmorgen, 9 Uhr. Das Weekly läuft. Zwei Kameras sind aus, drei Leute schweigen, einer spricht – mit Tonproblemen. Willkommen im hybriden Führungsalltag. Aber wie leitet man eigentlich so ein Team, das man vor allem als Kachel kennt? Eine Frage, mit der sich auch Dr. Christiane Stempel und Elisa Begerow beschäftigen. Beide setzen sich in ihrer Arbeit intensiv mit den Herausforderungen moderner Führung auseinander. Certo traf sie zum Gespräch.
Dr. Christiane Stempel hat zum Thema Führung und Gesundheit promoviert und arbeitet als Dozentin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Fernuni Hagen. Daneben ist sie als Expertin für Führungskräfteentwicklung an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis tätig: Für EVAO, eine Ausgründung der Fernuni Hagen, berät sie Unternehmen zur gesunden Arbeitsgestaltung. (Foto: Fernuniversität Hagen/Volker Wiciok)
Dr. Christiane Stempel ist Arbeits- und Organisationspsychologin an der Fernuni Hagen, hat gerade ein Forschungsprojekt zur Führung in der digitalen Arbeitswelt abgeschlossen und weiß: „Führungskräfte spüren aktuell, dass sich ihre Aufgaben deutlich verschieben.“
Zwar funktioniere Führung heute nicht komplett anders als früher, so Stempel: „Kompetenzen, die in Präsenz wichtig sind, sind es auch hybrid. Allerdings haben sich auch die Schwerpunkte der Führungsarbeit und ihre Ausführung geändert.“ Sind Teammitglieder weniger sichtbar, gewinnt vor allem die Arbeitsgestaltung an Bedeutung. Stempels Forschung zeigt, dass Führungskräfte dann deutlich mehr koordinieren und kommunizieren müssen. Etwa damit soziale Beziehungen gepflegt oder Arbeitszeiten nicht entgrenzt werden. „Denn das geht bis hin zur interessierten Selbstgefährdung“, warnt Stempel. Auch bei den Führungskräften selbst, die häufig ihre Arbeitszeit ausdehnen, um auch für zeitflexibel arbeitende Teams immer ansprechbar zu sein.
Umso wichtiger ist es, die hybride Arbeit klar und strukturiert zu gestalten. „Man sollte das eigene Rollenbild als Führungskraft reflektieren und schauen, was sich im neuen Setting ändert“, sagt auch Elisa Begerow. Führung sei deutlich indirekter geworden, so die VBG-Arbeitspsychologin. Dafür brauche es vor allem eins: Vertrauen ins Team. „Wenn ich mich bislang eher als Aufgabengeberin und Kontrolleurin gesehen habe, muss ich nun mehr zur Kommunikatorin werden und dafür sorgen, dass alle im Team gut arbeiten können.“ Dort wiederum wird Selbstorganisation immer wichtiger. Um beides zu stärken, empfiehlt Begerow Führungskräften, den Austausch zu suchen. „Die grundlegenden Fragen des hybriden Arbeitens sollte man gemeinsam besprechen“, sagt die Psychologin. „Zum Beispiel mit Hilfe von ‚Team Agreements‘, einem Onlinetool der VBG, mit dem Teams praxisnah Regeln zur Zusammenarbeit entwickeln können.“
Elisa Begerow ist Arbeitspsychologin bei der VBG. Als Basis für erfolgreiche hybride Führung sieht sie klare Absprachen im Team. Um diese gemeinsam zu erarbeiten, empfiehlt Begerow das kostenfreie Online-Tool „Team Agreements“ der VBG. (Foto: VBG/Gunnar Geller)
Auch Stempel rät, die Arbeit partizipativ zu gestalten: „Mitarbeitende können meist genau sagen, was sie in Sachen Führung brauchen.“ Was wiederum für die Führungskraft zentral ist, um die eigenen Ressourcen sinnvoll einzusetzen. Sind direkte Kontakte selten, empfiehlt die Forscherin, viel Zeit in den Aufbau tragfähiger Beziehungen zu stecken. Dazu gehöre es, Stärken und Schwächen der einzelnen Mitarbeitenden und den Arbeitskontext zu kennen, aber auch Transparenz zu gewährleisten. Stempel: „Man muss versuchen, Unsichtbares sichtbar zu machen. Nicht im Sinne von Kontrolle, sondern im Sinne einer offenen Kommunikation und einer gesunden und fairen Arbeitsauslastung im Team.“
Wie wichtig solch stabile Beziehungen in hybriden Teams sind, belegen Untersuchungen: Haben Beschäftigte zum Beispiel bereits in Vor-Hybridzeiten eng zusammengearbeitet, haben sie im Homeoffice seltener das Gefühl der Isolation und fühlen eine engere Bindung im Team. „Tragfähige Beziehungen aufzubauen, ist daher insbesondere bei neuen Teams und Onboarding-Prozessen zentral“, so Stempel.
Transparenz wiederum ist beispielsweise für den Umgang mit Konflikten wichtig. Werden die von der Führungskraft nicht wahrgenommen, drohen sie vor sich hin zu schwelen und irgendwann zu eskalieren. Führungskräfte sollten unbedingt ansprechen, wenn sie den Verdacht haben, dass es Probleme gibt, sagt Stempel. „Mindestens genauso wichtig ist es, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Teammitglieder Dinge offen benennen können.“
„Kompetenzen, die in Präsenz wichtig sind, sind es auch hybrid. Allerdings haben sich auch die Schwerpunkte der Führungsarbeit und ihre Ausführung geändert.“
Grundsätzlich plädiert Stempel dafür, die Rolle von Führung in hybriden Arbeitskontexten neu zu denken: „Weniger managen, mehr führen im Sinne von echter Beziehungsarbeit!“ Das gilt auch für die Feedbackkultur. Wenn kurzes Lob oder konstruktive Kritik en passant an der Bürotür nicht möglich sind, muss man andere Wege finden. Zum Beispiel per Chatnachricht. „Das passiert aber nicht automatisch wie früher“, so Stempel. „Man muss es etwas strukturierter angehen – und das bedeutet Aufwand.“
Damit dieses neue Rollenverständnis und die damit verbundenen Aufgaben und Kompetenzen Einzug in den Arbeitsalltag halten, sieht Stempel nicht nur die Führungskräfte in der Pflicht: „In den meisten Führungskräfte-Entwicklungsprogrammen steht die Persönlichkeit im Fokus und weniger Handwerkszeug wie Arbeitsgestaltungskompetenzen oder kontinuierliche Beziehungsarbeit“, so die Psychologin. „Das muss sich ändern, denn die sind zentral, um sich an die neuen Herausforderungen gut anpassen zu können.“
Das löse allerdings, gibt die Expertin für Führungskräfteentwicklung zu, noch nicht das Problem, dass Führungsrollen heute oft überfrachtet sind, wenn sie sowohl die inhaltliche Leitung als auch die Personalführung umfassen: „Das könnte man anders strukturieren, sodass Führungskräfte mehr Zeit für die Menschen und die Beziehungsarbeit haben, die notwendig ist.“ Denkbar sei etwa eine Trennung von Fach- und Führungskarrieren, wie es sie in einigen Unternehmen schon gibt.
Den Führungskräften selbst rät die Arbeitspsychologin, möglichst flexibel zu bleiben – und, wenn möglich, auch ein Stück weit gelassen. „Wir sind mittendrin im Umbruch“, sagt Stempel. „Niemand hat alle Antworten. Aber wer bereit ist, gemeinsam im Team zu lernen, nachzujustieren und klar zu kommunizieren, ist auf einem guten Weg.“
Team Agreements
Mit dem neuen VBG-Tool „Team Agreements“ können Teams in einem angeleiteten Workshop niedrigschwellig und mit geringem Aufwand Vereinbarungen zu sechs Themenkomplexen der Hybridarbeit erarbeiten – von „Aufgaben und Tätigkeiten“ über „Austausch und Zusammenhalt“ bis hin zu „Gesundheit und Grenzen“.
VBG-Mitgliedsunternehmen steht das Tool kostenfrei unter www.vbg.de/team-agreements zur Verfügung.
Gesund und erfolgreich führen
Von der gesunden Selbst- und Mitarbeitendenführung bis hin zu passenden Rahmenbedingungen: Das VBG-Fachwissen „Gesund und erfolgreich führen“ beantwortet viele Fragen dazu, was Führungskräfte in ihrer leitenden Rolle für sich selbst und für ihr Team tun können und welche Voraussetzungen sie dabei unterstützen.
Die neue, um den Aspekt der hybriden Arbeit aktualisierte Version des VBG-Fachwissens „Gesund und erfolgreich führen“ steht hier zum kostenfreien Download bereit.