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Sara Ameri-Turani und Thilo Springer
Foto: VBG/Alexandra Beier / Thomas Niedermüller

Behinderung nach UnfallWenn auf einmal alles anders ist

Sara Ameri-Turani und Thilo Springer haben nach Unfällen bleibende Behinderungen. Wie haben sie ins Leben zurückgefunden, und wie gehen sie heute damit um?

Wegeunfälle von und zur Arbeit stehen unter dem Schutz der gesetzlichen Unfall­versicherung. Wie ein Unfall das Leben radikal ändert und wie Betroffene sich mithilfe ihrer Arbeit­gebenden und der VBG ein selbst­bestimmtes Leben schaffen, darum geht es im Interview mit Sara Ameri-Turani (43) aus Stuttgart und Thilo Springer (47) aus Bad Aibling. Unabhängig voneinander erlebten die beiden VBG-Versicherten schwere Autounfälle – mit Folgen, die ihrer beider Leben veränderten. Heute blicken sie zurück auf die Zeit nach dem Unfall und ihren Weg zurück ins Leben.

Frau Ameri-Turani, nach einem Autounfall im Jahr 2004 haben Sie noch heute bleibende Einschränkungen, unter anderem einen Gesichts­feld­ausfall und eine Halb­seiten­lähmung mit Oberflächen- und Tiefen­sensibilitätsstörung sowie mittel­gradige kognitive Störungen. Wie leben Sie damit?
Sara Ameri-Turani: Ich werde mit den Folgen des Unfalls für immer leben, von daher musste ich mich schnell an die Einschränkungen gewöhnen. Es war anfangs natürlich ein traumatischer Schock für mich. Als ich nach dem Unfall – mir ist an der roten Ampel auf dem Nach­hause­weg jemand aufgefahren – im Kranken­haus aufgewacht bin, war schlagartig alles anders. Ein Riss in der Innenwand einer Haupt­schlag­ader am Hals führte dazu, dass die Blut­versorgung des Hirns unterbrochen wurde. Im Krankenhaus lag ich im Koma und musste danach vieles wieder neu lernen: sprechen, schlucken, sitzen, stehen und gehen. Das war eine Mammut­aufgabe, doch ich habe mir immer wieder kleine Ziele gesetzt und mich mit viel Disziplin, neuro­psychologischer und medizinischer Unter­stützung wieder ins Leben zurück­gekämpft. Heute kann ich mit den Einschränkungen, die geblieben sind, umgehen und habe durch viel Arbeit und Training motorische Bewegungen und Kompensations­strategien neu erlernt. Ich arbeite wieder bei meinem alten Arbeit­geber KPMG, unter anderem auch als Schwer­behinderten­vertretung am Standort, wodurch ich anderen Menschen mit Behinderungen mit meiner Erfahrung helfen kann.

Herr Springer, Sie haben ein ähnliches Erlebnis hinter sich.
Thilo Springer: Genau, bei mir war es auch ein Autounfall auf dem Rückweg von der Arbeit. Das war im Sommer 2017. Mir ist ein anderes Auto in die Seite gefahren, sodass sich mein Wagen mehrmals überschlagen hat. Mit einem Rettungs­hubschrauber wurde ich von der Unfall­stelle direkt ins Krankenhaus gebracht. Ich hatte unter anderem ein schweres Polytrauma, also diverse Gesichts­frakturen, und durch den Unfall meine Sehfähig­keit fast komplett verloren. Ich sehe nur noch mit etwa ein bis zwei Prozent meiner ursprünglichen Sehkraft. Das heißt, ich kann nur noch hell und dunkel erkennen. Das war für mich ein riesiger Schock und eine enorme Umgewöhnung, ein Prozess, der bis heute andauert. Es war für mich aber auch klar, dass ich mich wieder zurück­kämpfen muss – nicht nur physisch, sondern auch mental.

Was bedeutet Inklusion im Arbeitsalltag? Ein Kurzfilm zeigt die Geschichte von Thilo Springer bei Accenture.

Wie lief in dem Fall die Unterstützung durch die VBG ab?
Thilo Springer: Mein zuständiger Reha-Manager von der VBG, Stefan Wolfs­winkler, hat mich im Kranken­haus besucht und mir direkt das Gefühl gegeben, die bestmögliche Unter­stützung zu bekommen – nicht als ein Versicherungs­fall, sondern als Mensch. Man muss wissen, dass solche schwerwiegenden Verletzungen – also der plötzliche Verlust der Sehfähigkeit – extrem selten sind. Von daher war es auch für die VBG kein Routine­fall. Dennoch hat sie alles daran­gesetzt, dass ich eine Perspektive für ein Leben mit der Behinderung habe – angefangen bei der Physio­therapie, über psychologische Unter­stützung, bis hin zur Bereit­stellung eines Blinden­hundes und einer persönlichen Assistenz für mich. Mir war schnell klar, dass es keinen Weg zurück zur Normalität gab. Umso wichtiger war ein Weg nach vorn, auf dem mich die VBG begleitet hat.

Sara Ameri-Turani: Das kann ich nur so unter­streichen. Auch bei mir hat sich meine Reha-Managerin Heike Trinkaus von der VBG sehr schnell nach dem Unfall gemeldet. Zusammen haben wir intensiv daran gearbeitet, dass ich wieder arbeiten und mit meinen Einschränkungen, die geblieben sind, leben kann. Der Unfall ist mittler­weile rund 17 Jahre her, und ich benötige noch immer täglich Therapien wie Physio­therapie oder Ergo­therapie zur Bewältigung des Alltags und Erhaltung der Arbeits­fähigkeit. Dass ich mich jederzeit bei der VBG melden kann, bewahrt mich vor Ängsten und gibt mir emotionale Sicherheit. Dafür bin ich sehr dankbar, ebenso meine ganze Familie. Eine Teilhabe an der Gesellschaft und am Arbeits­leben wäre mir ohne die Unter­stützung der VBG nicht im selben Umfang möglich, da bin ich mir sicher.

Sara Ameri-Turani
Zweimal wöchentlich besucht Sara Ameri-Turani die berufsbegleitende Reha, um körperlich gesund und fit zu bleiben. Foto: Thomas Niedermüller

Wie gelang Ihnen die Rückkehr in den Job?
Sara Ameri-Turani: Zum Zeitpunkt des Unfalls war ich 25 Jahre alt. Als ich aus dem Koma aufgewacht bin, dachte ich ehrlich gesagt, dass mein Arbeits­leben damit vorbei wäre. Nach und nach hat sich mein Zustand aber gebessert, und mit der Unter­stützung der VBG, meiner Familie und auch meines Arbeit­gebers war das Ziel einer Rückkehr in den Job auf einmal wieder realistisch. Das war eine riesige Motivation. Für mich war also ganz klar: Ich muss unbedingt wieder in den Alltag, und die Arbeit gehörte da für mich eindeutig dazu. Es hat am Ende eineinhalb Jahre gedauert bis zur Wieder­ein­gliederung, aber die Zeit ist auch rück­blickend wie im Flug vergangen. Das lag auch daran, dass mich mein Vor­gesetzter oft besucht hat, sich Kolleginnen und Kollegen bei mir gemeldet haben oder ich zwischen­durch auch auf Firmen­feiern eingeladen war. Wirklich weg war ich also nie.

Thilo Springer: Auch für mich war der persönliche Kontakt entscheidend! Die damaligen Geschäfts­führer und meine Vorgesetzte haben mich im Krankenhaus besucht und mir signalisiert, dass sie nach wie vor auf mich zählen. Sie wüssten zwar nicht, wie, aber wir würden das schon gemeinsam hinbekommen. Und tatsächlich bin auch ich knapp eineinhalb Jahre später wieder offiziell zurück­gekehrt an meinen Arbeits­platz. Aller­dings wurde meine ursprüngliche Firma von dem Unternehmen Accenture aufgekauft, und ich musste mich in den neuen Strukturen erst einmal zurecht­finden. Dabei hat mich Accenture zum Glück sehr unter­stützt, da ihnen das Thema Inklusion enorm wichtig ist. Natürlich hat mich auch die VBG stets begleitet: Im Berufs­förder­werk in Würzburg habe ich ganz praktisch gelernt, wie ich am PC arbeiten und kommunizieren kann, auch ohne sehen zu können, etwa mit Blinden­schrift. Gemeinsam mit meinem Arbeitgeber haben wir dann geschaut, wie mein Arbeits­platz beschaffen sein muss für meine Rückkehr und was ich über­haupt im Job leisten kann – und was nicht mehr. Auch das ist für mich noch immer ein Prozess.

Sara Ameri-Turani: Das trifft es ganz gut. Auch bei mir hat es lange gedauert, heraus­zu­finden, wie viel ich wirklich leisten kann. Ich arbeite jetzt zwei Stunden pro Tag mit fachlich ähnlichen Aufgaben wie vorher. Körperlich ginge sicherlich mehr, aber mental ist die neuro­kognitive und körperliche Belastung so anstrengend, dass ich nach zwei Stunden wirklich geschafft bin.

Thilo Springer

Thilo Springer arbeitet wegen der Coronavirus-Pandemie aktuell vermehrt im Homeoffice.

Foto: VBG/Alexandra Beier

Was gibt Ihnen in Ihrer neuen Situation Zuversicht, Herr Springer?
Thilo Springer: Ein entscheidender Punkt war wahrscheinlich, dass meine Vorgesetzten und meine Kolleginnen und Kollegen mich unbedingt wieder­sehen wollten. Das hat mir unglaublich viel Kraft gegeben. Und auch die ersten Male im Büro waren sehr emotional, weil ich gemerkt habe, wie sich alle über meine Rückkehr freuten. Noch heute sagen mir viele Menschen, dass sie stolz auf mich sind, wie ich das alles hinkriege mit meiner Behinderung. Es ist natürlich nicht mehr das Leben von früher, doch auch das, was übrig bleibt, ist für mich absolut lebens­wert!

Frau Ameri-Turani, Sie sind heute Schwer­behinderten­vertreterin und Peer. Das heißt, Sie helfen Menschen mit ähnlichen Behinderungen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Was ist Ihre Motivation dahinter?
Sara Ameri-Turani: Als ich gefragt wurde, ob ich mir diese Art von Tätigkeit vorstellen könnte, habe ich sofort zugesagt. Für mich war das auch eine Form von Bestätigung, dass sich mein persönlicher Weg gelohnt hat. Ich gebe also meine Erfahrung weiter, indem ich andere Menschen mit Behinderungen unter­stütze – das kann zum Beispiel bei der Wieder­eingliederung sein oder bei ganz praktischen Fragen zum Alltag. Diese Arbeit mache ich unglaublich gerne, denn ich weiß ja ganz genau, was die Menschen, mit denen ich arbeite, brauchen und fühlen.

Teilhabe wird belohnt

Mit dem VBG-Teilhabepreis zeichnet die VBG alle zwei Jahre Unternehmen aus, die Teilhabe besonders erfolgreich umgesetzt haben. Bewerben können sich bei der VBG versicherte Unternehmen, die mindestens einer oder einem versicherten Beschäftigten nach einem Arbeits- oder Wegeunfall oder einer Berufskrankheit zurück ins gewohnte Leben geholfen haben. Informationen zur aktuellen Bewerbungsrunde gibt es im Netz.

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