„Moin, moin!“, ruft Detlef Erasmy durch die halb geöffnete Tür und richtet sich mühevoll auf. Dem Bremer sieht man seine Knieverletzung beim Gehen an, trotzdem wollte er den Termin unbedingt einhalten. Immerhin hat er einiges zu sagen, das sonst selten Gehör findet. Es geht um Inklusion. Genauer gesagt: um Sprache. Und auch um seine Knieverletzung, doch eigentlich nur am Rande. Aber der Reihe nach.
Leichte Sprache hilft Millionen Menschen im Alltag
Die Räume der Lebenshilfe Bremen, einem Elternverein und Fachverband für Eltern, Angehörige, Menschen mit Behinderung, Freiwillige und Fachleute, beherbergen auch das Büro für Leichte Sprache. Hier arbeitet Detlef Erasmy mit seinem Kollegen Björn Siefert. Der 30-jährige Siefert als Übersetzer, Erasmy, 61, als Prüfer. So ungleich die beiden auf den ersten Blick wirken mögen, im Arbeitsalltag punkten die beiden mit Teamwork. „Man muss sich auf den anderen verlassen können, sonst funktioniert es hier nicht“, sagt Siefert. Erasmy pflichtet ihm nickend bei.
Und das Teamwork sieht folgendermaßen aus: Der Sprachwissenschaftler Siefert formuliert Texte so um, dass Erasmy sie ohne Probleme versteht. Detlef Erasmy steht als Textprüfer also stellvertretend für rund 300.000 Menschen in Deutschland, die aufgrund einer geistigen Behinderung oder einer Lernbehinderung Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben. Zählt man funktionelle Analphabeten, etwa alte Menschen und Ausländer mit nur wenig Deutschkenntnissen, dazu, sind es je nach Quelle sogar über zehn Millionen Menschen, die von Leichter Sprache profitieren.
Nachfrage nach einfacheren Texten steigt
„Ich finde, ich kann schon ziemlich gut lesen“, erzählt Erasmy. Im Alltag gebe es jedoch viele Situationen, in denen ihn Texte oder Wörter überfordern. Viele Dokumente muss er mit seinem Betreuer zusammen durchgehen, bevor er sie unterschreiben kann. Auch der Gang zum Kniespezialisten war für Erasmy nicht nur wegen seiner Verletzung unangenehm: Hinzu kommt, dass das Lesen eines jeden Formulars, jeder Datenschutzerklärung, jedes Beipackzettels eines Medikaments mit enormen Anstrengungen verbunden ist. Es müsse sich etwas ändern, findet Erasmy: „Leichte Sprache muss es überall geben.“
Immer mehr Unternehmen und Behörden möchten ihre Internetauftritte, Broschüren und Flyer auch Menschen zugänglich machen, die von normaler und erst recht von bürokratischer Sprache ausgeschlossen werden. „Wir merken, dass die Sensibilität in der Gesellschaft für Menschen mit Leseschwierigkeiten insgesamt wächst“, erklärt Marion Klanke, Büroleiterin der Lebenshilfe Bremen.
Eine funktionierende Demokratie erfordert Teilhabe
Doch als es um die Übersetzung von Wahlbescheiden zur Bremer Bürgerschaftswahl ging, gab es auch Kritik. „Manche Menschen fühlten sich von den Benachrichtigungen in Leichter Sprache nicht ernst genommen“, berichtet Björn Siefert. „Da fehlt dann einfach die Empathie für die eigentliche Zielgruppe.“ Von einem Sprachverfall und einer „Verdummung des Volkes“ redeten darüber hinaus insbesondere rechte Medien und Blogger, die fürchteten, das „Idiotendeutsch“ oder die „Kindersprache“ würde das Standarddeutsch ersetzen. Siefert betont, dass das nicht das Ziel der Leichten Sprache sei: „Leichte Sprache soll nichts ersetzen. Vielmehr ermöglicht sie jedem Menschen politische Teilhabe – und das sollte die Grundvoraussetzung einer Demokratie sein.“
Kritik könne er nur dann nachvollziehen, wenn es sich um schlecht geschriebene Texte in Leichter Sprache handele, sagt Siefert. Seit 2006 besteht ein Regelwerk für die sprachliche Vereinfachung und Gestaltung. Eine davon: Der Genitiv entfällt. „Darüber beschweren sich viele. Persönlich haben wir auch gar nichts gegen den Genitiv. Aber für das Textverständnis in der Zielgruppe für Leichte Sprache verzichten wir gerne darauf“, so Siefert.
Die Übersetzer feilen an jedem Text – auch für Certo
An seinem Schreibtisch sitzt Erasmy konzentriert am Certo-Text zum Thema interessierte Selbstgefährdung. Am Tag zuvor hat sein Kollege Siefert den Text in Leichte Sprache übersetzt – Erasmy prüft. Mit einem gelben Textmarker hebt er Wörter und Abschnitte hervor, die er nicht versteht. Ein englisches Wort. Ein zu langer Satz. „Das ist noch nicht ganz rund“, kommentiert er. Anschließend setzen sich Siefert und Erasmy zusammen, besprechen Unklares, überarbeiten alles ein letztes Mal. Einige Tage später steht der Text zur interessierten Selbstgefährdung in Leichter Sprache auf der Website: „Auf die Gesundheit achten“ heißt er dort.
Dass immer mehr Unternehmen für ihre Angebote die Leichte Sprache nutzen, ist für Siefert ein Schritt in Richtung inklusive Zukunft. „Arbeitssicherheit und Gesundheit sind Themen, die viele Menschen mit und ohne Behinderung ansprechen“, sagt er. „Es ist wichtig, hier sprachliche Barrieren abzubauen.“ Denn nur wer die Regeln für Arbeitssicherheit versteht, weiß sie auch anzuwenden. Und der nächste Schritt? Björn Siefert holt ein Buch hervor: „Der Fall im Treppenhaus“ steht auf dem Cover. „Eine Krimigeschichte von uns. Nur in Leichter Sprache erhältlich.“ Unterhaltung, Literatur, Freizeitangebote – auch hier besteht viel Nachholbedarf. Detlef Erasmy ergänzt: „Mehr Bücher wären toll, dann muss ich nicht immer nur Prüftexte lesen.“
Alle Certo-Artikel gibt es in Leichter Sprache auf www.certo-portal.de/leichte-sprache.
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