5 Thesen zur Hybridarbeit – und was an ihnen dran ist
Veröffentlicht am
Veröffentlicht am
An der Frage, ob Hybridarbeit erlaubt und wie sie organisiert wird, kommt heute kaum ein Unternehmen vorbei. Dabei dürfte es in wenigen Bereichen der Arbeitsorganisation so kontroverse Standpunkte geben wie hier. Doch was sagt eigentlich die Forschung zu der oft verkürzt dargestellten Diskussion, ob hybrides Arbeiten nun eher Chance oder Herausforderung ist?
Certo hat mit zwei Experten gesprochen, die es wissen müssen: Prof. Dr. Florian Kunze arbeitet an der Universität Konstanz und leitet dort das „Future of Work Lab“. Seit 2020 untersucht er in der Konstanzer Homeoffice-Studie, wie sich mobiles Arbeiten auf Beschäftigte und Unternehmen auswirkt. Dr. Nils Backhaus leitet bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) die Gruppe „Arbeitszeit und Flexibilisierung“. Dort forscht er unter anderem dazu, wie sich flexible Arbeitsgestaltung auf die Gesundheit, die Zufriedenheit und das Wohlbefinden von Beschäftigten auswirkt.
Prof. Dr. Florian Kunze (links) und Dr. Nils Backhaus (rechts) am 12. Juni 2025 auf der WorkVision, dem Zukunftsforum der VBG. In ihrem Vortrag betrachteten die beiden Experten für den Wandel der Arbeitswelt das Thema „Homeoffice & Arbeitszeit“ aus aktueller Forschungsperspektive. (Fotos: VBG/Andre Wulf)
Für Certo haben sich Kunze und Backhaus fünf verbreitete Thesen zu Homeoffice und Hybridarbeit vorgenommen und sie aus Forschungsperspektive eingeordnet.
These 1: Im Homeoffice wird weniger gearbeitet – dort wird eher prokrastiniert.
Diese Annahme lässt sich wissenschaftlich nicht bestätigen. Produktivität hänge stark von der Fähigkeit zur Selbstorganisation ab, wie Backhaus betont: „Wer im Homeoffice dazu neigt, Aufgaben aufzuschieben, wird dies wahrscheinlich auch im Büro tun. Zu Hause wird dieses Verhalten höchstens etwas verstärkt, da dort mehr Eigenverantwortung gefordert ist.“ Persönlichkeit und Arbeitsweise änderten sich jedoch nicht allein durch den Ortswechsel. Gleichzeitig zeigten Studien, dass Beschäftigte im Homeoffice seltener durch Teammitglieder unterbrochen werden und deshalb produktiver arbeiten können.
Ein Problem vieler Studien sei für Backhaus jedoch die Art, wie Produktivität überhaupt gemessen und definiert werde. Dies geschehe häufig durch Befragungen, dabei komme es oft zu Wahrnehmungs-Diskrepanzen: „Viele Beschäftigte empfinden ihre Produktivität im Homeoffice als deutlich höher, während Führungskräfte diese Einschätzung nicht immer teilen. Das hängt aber auch mit den unterschiedlichen Aufgaben zusammen.“
Kunze verweist hier auf differenzierte Forschungsergebnisse: „Für klar definierte, individuelle Tätigkeiten – etwa im Callcenter oder bei einfacher Sachbearbeitung – gibt es eine sehr gute Studienlage: Hier zeigt sich, dass die Produktivität im Homeoffice steigt.“ Allerdings würden diese Tätigkeiten meist eng überwacht. „Für komplexe Teamarbeiten oder weniger klar umrissene Aufgaben ist die Forschungslage weniger eindeutig, da sich Produktivität hier schwieriger messen lässt“, so Kunze. Pauschale Lösungen – etwa feste Rückkehrtage für alle – würden der Vielfalt der Tätigkeiten in modernen Organisationen aber nicht gerecht werden. Sinnvolle Präsenz im Büro sollte sich an den Anforderungen der jeweiligen Aufgabe orientieren: Individuelle Tätigkeiten könnten oft problemlos mobil erledigt werden, während Teamarbeit, Einarbeitung neuer Mitarbeitender oder kreative Projekte mehr Präsenz erforderten. „Pauschale Vorgaben führen häufig zu Unruhe und Unzufriedenheit, wie aktuelle Beispiele aus großen Unternehmen zeigen“, warnt Kunze.
Thesen-Quick-Check:
Die Annahme, dass im Homeoffice generell weniger gearbeitet und mehr prokrastiniert wird, lässt sich wissenschaftlich nicht belegen. Entscheidend für die Produktivität sind die Art der Tätigkeit, die Fähigkeiten zur Selbstorganisation und eine differenzierte Gestaltung der Arbeitsbedingungen.
These 2: Remotearbeit wirkt sich negativ auf Innovationsfähigkeit und Kreativität aus.
Backhaus sieht die Forschungslage dazu als nicht eindeutig an. Er verweist dazu auf eine Studie, die die Innovationsfähigkeit bei virtueller Zusammenarbeit mit der in Präsenz verglich: „Dabei wurde quantitativ gemessen, wie viele kreative Lösungen gefunden wurden, nicht aber die Qualität oder der Innovationswert der Ideen bewertet.“ Der Arbeitsforscher hält dies für wenig aussagekräftig, da eine einzelne, besonders gute Idee entscheidender sein könne als eine große Menge weniger relevanter – „abgesehen davon, dass die Ergebnisse für die virtuelle Zusammenarbeit nicht viel schlechter waren.“
Backhaus räumt ein, dass bestimmte kreative Prozesse subjektiv besser vor Ort funktionierten: „Das ist dann aber weniger wissenschaftlich belegt als vielmehr eine persönliche Bewertung der Beteiligten. Auch virtuelle Zusammenarbeit kann sehr kreativ sein, wenn sie gut gestaltet ist. Es gibt Unternehmen, die ausschließlich virtuell arbeiten und trotzdem innovativ bleiben.“
Kunze ergänzt, dass die Debatte um Kreativität und Präsenz sehr von amerikanischen Technologiekonzernen geprägt werde, die ihre Mitarbeitenden verstärkt ins Büro zurückholen. „Es gibt jedoch keine belastbaren Studien, die belegen, dass Teams im Büro tatsächlich kreativer sind als virtuell oder hybrid arbeitende.“ Brainstormings in Präsenz würden zum Beispiel oft von den lautesten Mitarbeitenden dominiert. „Im Gegensatz dazu können digitale Formate Introvertierten mehr Raum geben“, sieht Kunze auch einen Vorteil in virtuellen Kreativprozessen.
Eine Studie, die soziale Netzwerkstrukturen in Organisationen analysierte, zeige aber, dass bei vollständiger Arbeit im Homeoffice vor allem die Verbindungen über Team- und Abteilungsgrenzen hinweg deutlich abnahmen – Verbindungen, die für die Innovationskraft großer Organisationen essenziell sind. „Das ist allerdings eine Herausforderung, die nicht durch starre Präsenzpflichten gelöst werden sollte, sondern durch gezielte, sinnvolle Präsenzphasen, die den Austausch über Teams hinaus fördern“, so Kunze. „Insgesamt besteht hier noch großer Forschungsbedarf. Die Annahme, dass Kreativität nur in Präsenz funktioniert, ist aus wissenschaftlicher Sicht aber nicht belegt.“
Thesen-Quick-Check:
Flexible Arbeitsmodelle beeinträchtigen die Innovationsfähigkeit und Kreativität nicht zwangsläufig. Die Herausforderung besteht darin, soziale Verbindungen und Austauschformate auch in hybriden oder virtuellen Settings zu gestalten.
These 3: Flexible Arbeitsmodelle erleichtern die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben.
Die höchste Präferenz für mobiles Arbeiten sei laut Konstanzer Homeoffice-Studie tatsächlich bei Beschäftigten mittleren Alters zu finden, die häufig Care-Arbeit leisten, sagt Kunze. Die Flexibilität erleichtere es, familiäre Verpflichtungen und Beruf zu vereinbaren. „In der Forschung zeigt sich, dass dadurch der sogenannte Work-Family-Konflikt abnimmt – der Druck, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen“, so Kunze. „Gleichzeitig kann aber der sogenannte Family-to-Work-Konflikt zunehmen, wenn familiäre Aufgaben in die Arbeitszeit hineinwirken.“ Das Hin- und Herwechseln zwischen beruflichen und privaten Anforderungen könne auf Dauer belasten und gelinge nur, wenn räumliche und zeitliche Abgrenzungen möglich sind. Da nicht alle zu Hause über einen separaten Arbeitsraum verfügten, gebe es „durchaus Beschäftigte, die selbst wieder verstärkt ins Büro zurückkehren möchten, weil sie dort mehr Ruhe und Abgrenzung finden“, so Kunze.
Backhaus bestätigt, dass eingesparte Wege, mehr Flexibilität bei der Arbeitszeit und die Möglichkeit, private Aktivitäten besser in den Alltag zu integrieren, von vielen Beschäftigten als Gewinn empfunden würden – und zwar nicht nur von Menschen mit Betreuungsaufgaben. „Je mehr Flexibilität Beschäftigte haben, desto mehr Verantwortung tragen sie aber auch, ihre eigenen Grenzen zu ziehen“, gibt Backhaus jedoch zu bedenken. „Das ist nicht für alle einfach und stellt gerade zu Beginn eine Herausforderung dar.“
Untersuchungen zeigten zudem: Wer ausschließlich oder in sehr hohem Umfang im Homeoffice arbeitet, ist nicht zwangsläufig zufriedener mit seiner Work-Life-Balance. „Viele Beschäftigte berichten, dass sie zwar tagsüber private Verpflichtungen besser wahrnehmen können, dafür aber abends oder am Wochenende noch arbeiten.“ Die Grenze zwischen Beruf und Privatleben verschwimme so, was zu einer dauerhaften Belastung werden kann. „In Panelstudien, die wir regelmäßig durchführen, wünschen sich bis zu 75 Prozent der Beschäftigten eine klare Trennung von Arbeit und Privatleben. Für sie ist es wichtig, dass es Grenzen gibt – selbstgesetzte oder etwa solche durch Regelungen zur Erreichbarkeit.“ Backhaus plädiert dafür, diese Lösungen im Team auszuhandeln und die Beschäftigten aktiv einzubinden.
Thesen-Quick-Check:
Flexible Arbeitsmodelle können die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben erleichtern – bringen aber neue Herausforderungen mit sich. Entscheidend ist, dass Beschäftigte und Führungskräfte gemeinsam Lösungen finden, die betriebliche Anforderungen und individuelle Bedürfnisse in Einklang bringen.
These 4: Die Arbeit im Homeoffice beeinflusst die Arbeitsmotivation und die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber negativ.
Kunze widerspricht dieser These und verweist auf die Selbstbestimmungstheorie: „Ein entscheidender Treiber für Motivation ist das Maß an Autonomie, das Beschäftigte bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und in der Wahl ihres Arbeitsortes erleben.“ Die Möglichkeit, flexibel und eigenverantwortlich zu arbeiten, werde von vielen Beschäftigten als großer Gewinn empfunden und könne die Motivation deutlich steigern. „Studien zeigen: Wird diese Flexibilität durch eine verpflichtende Rückkehr ins Büro wieder eingeschränkt, sinkt die Motivation spürbar, weil Beschäftigte sich gegängelt fühlen und das Gefühl von Selbstbestimmung verlieren“, so Kunze. Allerdings gebe es auch eine Kehrseite: „Soziale Anbindung und Zugehörigkeit sind ebenfalls wichtige Motivationsfaktoren. Wer dauerhaft und isoliert im Homeoffice arbeitet, kann sich einsam fühlen und die Bindung ans Team oder Unternehmen verlieren.“ Deshalb komme es darauf an, hybride Modelle so zu gestalten, dass sie sowohl Autonomie als auch soziale Einbindung ermöglichen.
Backhaus ergänzt, dass Untersuchungen aus den USA zeigen: In Unternehmen, die verpflichtende Rückkehr ins Büro angeordnet haben, sind Motivation und Loyalität deutlich gesunken. „Gerade die Leistungsträger – also die besonders motivierten und innovativen Beschäftigten – verlassen in solchen Situationen häufig das Unternehmen, während diejenigen bleiben, die weniger Alternativen haben.“ Unternehmen, die keine Flexibilität bieten, würden an Attraktivität verlieren und unter Umständen Schwierigkeiten haben, qualifizierte Fachkräfte zu halten.
Thesen-Quick-Check:
Homeoffice und flexible Arbeitsmodelle können Motivation und Loyalität sogar stärken, sofern sie mit Möglichkeiten zur sozialen Einbindung und klaren Absprachen kombiniert werden. Pauschale Rückkehrpflichten hingegen wirken sich eher negativ auf Motivation und Bindung aus.
These 5: Im ‚War for Talents‘ haben Unternehmen, die keine flexible Arbeitsorganisation ermöglichen, schlechtere Karten.
Kunze bestätigt diese These und verweist auf die Ergebnisse der Konstanzer Homeoffice-Studie: „Haben im Jahr 2020 noch rund 50 Prozent der Befragten angegeben, bei einem Jobwechsel gezielt nach Homeoffice-Möglichkeiten zu suchen, sind es heute bereits über 70 Prozent.“ Dabei legten nicht nur jüngere Beschäftigten Wert auf Flexibilität, sondern gerade die Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren. „Die Unterschiede zwischen den Generationen sind weniger ausgeprägt, als es die öffentliche Debatte oft suggeriert“, so Kunze. „Vielmehr ist Flexibilität inzwischen ein zentrales Kriterium für viele Bewerberinnen und Bewerber – unabhängig vom Alter.“
Kunze betont, dass die Verhandlungsmacht der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt deutlich gestiegen sei. „Wer heute gut ausgebildet ist und in gefragten Berufsfeldern arbeitet, kann sich die Arbeitsbedingungen aussuchen – und erwartet Flexibilität.“ Unternehmen, die keine flexiblen Modelle anbieten, würden von diesen Arbeitsuchenden oft gar nicht mehr in Betracht gezogen.
Auch Backhaus warnt davor, die Recruiting-Debatte auf das Alter der sich Bewerbenden zu reduzieren. Empirisch sei es schwierig, klare Generationengrenzen zu ziehen, da Faktoren wie Berufserfahrung, Persönlichkeit und aktuelle Lebensumstände die Präferenzen stärker prägen als das Alter allein. „Studien, die Berufseinsteiger erfassen, zeigen zudem, dass der Übergang vom Studium ins Berufsleben oft mit einem Wunsch nach Stabilität verbunden ist – Flexibilität wird hier erst im Laufe der Zeit relevanter“, so Backhaus. Grundsätzlich jedoch schätzten alle Altersgruppen flexible Arbeitsbedingungen – entscheidend sei die individuelle Situation.
Thesen-Quick-Check:
Flexible Arbeitsorganisation ist längst kein „Nice-to-have“ mehr, sondern ein Hygienefaktor im Wettbewerb um Fachkräfte. Unternehmen, die darauf verzichten, riskieren, beim Recruiting den Anschluss zu verlieren – insbesondere bei gut ausgebildeten Beschäftigten.
Sie wollen mehr zur erfolgreichen Umsetzung hybrider Arbeit wissen? Das VBG-Fachwissen „Gestaltung hybrider Arbeitsformen“ bietet detaillierte Einblicke in die Chancen und Herausforderungen, die mit der Integration von Büro- und Remote-Arbeit einhergehen. Nutzen Sie praxisnahe Tipps und wissenschaftlich fundierte Ansätze, um hybride Arbeitsmodelle erfolgreich in Ihrem Betrieb zu implementieren. Das VBG-Fachwissen steht hier zum kostenfreien Download zur Verfügung.
Eine praxisnahe Lösung für die hybride Arbeitsorganisation bietet zudem das neue Online-Tool der VBG „Team Agreements“. Mit dem geleiteten Workshop können Teams mit einer Größe von bis zu 14 Personen gemeinsam Vereinbarungen für ihre Zusammenarbeit entwickeln.