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Teilhabe ermöglichen„Ich habe null Toleranz für Nullbeschäftigung!“

Pro Inklusion: Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, und VBG-Hauptgeschäftsführer Kay Schumacher im Gespräch.

„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, so heißt es in unserem Grundgesetz. Den Alltag betrachtet, Herr Dusel: Wie weit sind wir davon entfernt?
Jürgen Dusel: In den letzten Jahren hat sich eine Menge getan. So haben wir die Behinderten­rechts­konvention ratifiziert und zu geltendem Bundes­recht gemacht, und mit dem neuen Teil­habe­stärkungs­gesetz haben wir einen weiteren Mosaik­stein, um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Das Thema Inklusion hat Rücken­wind bekommen in der jüngsten Vergangenheit, dennoch dürfen wir bestehende Problem­lagen nicht klein­reden: Menschen mit Behinderung brauchen Unter­stützung, und sie müssen die Möglichkeit haben, ihre Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder auf Teilhabe am Arbeits­leben ein­zu­lösen. Deswegen ist es wichtig, dass man das Thema Inklusion in allen Lebens­bereichen diskutiert: Gesundheit, Arbeit, Wohnen, Sport – und nicht nur im Bildungs­bereich. Dass alle Menschen teilhaben können, ist ein ständiger Auftrag, den wir in der Politik und Gesellschaft grundsätzlich zu erfüllen haben, und da kann die Bundes­republik Deutschland noch besser werden. So müssen wir das Thema Barriere­freiheit dringend angehen, denn Barriere­freiheit hat eine tiefe soziale Dimension und sollte Qualitäts­standard sein für ein modernes Land. Auch appelliere ich dafür, dass wir Barriere­freiheit und Digitalisierung zusammen­denken. Wer heut­zu­tage digitale Lösungen entwickelt und diese mit Barrieren versieht, handelt unprofessionell. Dann haben Menschen mit Behinderung nicht nur keine Vorteile von der Digitalisierung, sondern richtige Nachteile. Digitalisierung macht unser Land moderner – aber nur dann, wenn sie wirklich auch für alle nutzbar ist.

Das Thema Inklusion gehört in allen Lebensbereichen diskutiert, findet Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.

Foto: Behindertenbeauftragter/Henning Schacht

Sie haben Ihre Amtszeit unter das Motto „Demokratie braucht Inklusion“ gestellt. Wie hängt beides zusammen?
Dusel: Wenn wir über Inklusion reden, über die Teilhabe von Menschen in ihrer Vielfalt an unserem Leben, dann geht es nicht um irgendetwas Nettes oder Fürsorgliches, was karitativ ist, sondern es geht um Demokratisches. Menschen mit Behinderungen sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes mit denselben Rechten wie alle anderen Menschen auch. Es ist Aufgabe des Staates, das nicht nur per Gesetz zu beschließen, sondern Bund, Länder und Kommunen haben dafür zu sorgen, dass diese Rechte bei den Menschen auch ankommen und sie Wahl­möglichkeiten haben. Wenn es nicht gelingt, dass alle Menschen Gebrauch von ihrem Recht machen können, dann haben wir ein Demokratie­problem. Wir leben in einer freien, bunten, diversen und offenen Gesellschaft, in der jeder Mensch – egal, ob mit Behinderung oder ohne – seinen Platz hat. Demokratie braucht Inklusion, damit sie wirklich eine Demokratie ist. Und Inklusion braucht ein demokratisches Gemeinwesen.

Für Kay Schumacher, seit 1. Mai 2022 Hauptgeschäftsführer der VBG, ist gelebte Inklusion eine Herzensangelegenheit.

Foto: VBG/Silke Mayer

Teilhabe am Arbeitsleben gilt als wichtiger Schlüssel zur Inklusion. Engagieren sich Unternehmerinnen und Unternehmer in Deutschland genug?
Kay Schumacher: Es ist eine staatliche und gesamt­gesell­schaftliche Aufgabe, an der wir alle mitwirken müssen. Am Ende des Tages kommt es aber tatsächlich auf das Engagement Einzelner im Rahmen dessen an, was uns der Staat an Regelungen und an Handlungs­spiel­räumen mit an die Hand gegeben hat. Es gibt Unter­nehmerinnen und Unter­nehmer, die tun sehr viel, und es gibt welche, die tun gar nichts. Wir sollten hier also nicht verallgemeinern, sondern jene Betriebe und Beispiele hervortun, die sich engagieren, aber auch benennen, was nicht gut läuft.

Dusel: Wir haben durchaus Defizite in Deutschland. Wir müssen uns an die Regeln halten, die wir uns selbst gegeben haben (Anm. d. R.: siehe Infokasten), und wenn Unternehmen keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet sind, dann muss ich wirklich sagen: Das ist inakzeptabel. Ich habe null Toleranz für Null­beschäftigung!

Woher kommen Ihrer Meinung nach die Vorbehalte, Menschen mit Behinderung zu beschäftigen?
Schumacher: Es gibt eine ganze Reihe sehr qualifizierter Menschen mit Behinderung, die genau dasselbe im Job leisten, was auch andere leisten. Meine persönliche Erfahrung ist, dass behinderte Menschen vom Grund­satz her gleich motiviert sind. Einmal in die Betriebs­gemeinschaft integriert, wird die Kollegin oder der Kollege ausschließlich in der Funktion und dem Aufgaben­bereich wahrgenommen, für die sie oder er im Betrieb zuständig ist. Da wird im Arbeits­alltag kein großer Unterschied zwischen Beschäftigten mit oder ohne Behinderung mehr gemacht. Im Übrigen wandelt sich die Leistungs­fähigkeit ein Stück weit bei jedem Menschen im Verlauf des Lebens. Allein deswegen finde ich es schwierig, von behinderten und nicht behinderten Menschen zu sprechen.

Dusel: Menschen mit Behinderungen sehen sich immer wieder mit einer Vielzahl von Vorurteilen konfrontiert. Sie seien nicht so leistungs­fähig und würden häufiger krank. Das ist nach­gewiesener­maßen falsch. Herr Schumacher hat es auf den Punkt gebracht: Das sind Mit­arbeiterinnen und Mit­arbeiter wie alle anderen auch. Und wenn die Rahmen­bedingungen stimmen, dann machen sie einen guten Job. Die vielen Vorurteile resultieren meiner Meinung nach daraus, dass Menschen mit und ohne Behinderung sich kaum begegnen. Ich bin selbst ein gutes Beispiel: Ich bin nahezu blind und habe auf einer Regelschule Abitur gemacht. Jene Mitschülerinnen und Mitschüler, die gemeinsam mit mir Abitur gemacht und heute im Beruf Personal­verantwortung haben, stellen mit großer Wahr­scheinlichkeit eher Menschen mit Behinderungen ein. Ich habe diese Vision, dass Menschen mit Behinderungen nicht defizitär betrachtet werden, sondern dass erkannt wird, dass sie ganz viel einzubringen haben. Es gibt in Deutschland im Grunde keinen einzigen Arbeits­platz, der nicht sinnvoll von einem Menschen mit Schwer­behinderung ausgefüllt werden kann – voraus­gesetzt, die Rahmen­bedingungen stimmen.

Kay Schumacher ist seit 01.05.2022 Hauptgeschäftsführer der VBG. Der Volljurist ist bereits seit 1993 bei der VBG. Seit 2002 hat Kay Schumacher die VBG-Bezirks­verwaltung in Mainz geleitet. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Jürgen Dusel ist in der 19. Legislaturperiode von der Bundesregierung als Beauftragter der Bundes­regierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen bestellt worden. Für die 20. Legislatur­periode wurde er erneut berufen. Der Jurist war zuvor Beauftragter der Landes­regierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen in Brandenburg. Seine Amtszeit steht unter dem Motto „Demokratie braucht Inklusion“.

Die Sorgen in den Betrieben gehen noch weiter: Man müsse sich über das normale Maß hinaus für Menschen mit Behinderungen engagieren, und es sei unmöglich, sich von behinderten Kolleginnen und Kollegen zu trennen, wenn die Zusammen­arbeit doch nicht klappt. Was sagen Sie den Chefinnen und Chefs?
Dusel: Es wird definiert, welche Leistung erbracht werden soll, und das hat erst einmal nichts damit zu tun, ob jemand eine Beeinträchtigung hat oder nicht. In etwa 80 Prozent der Fälle, in denen Unternehmen beim Integrations­amt einen Antrag auf Zustimmung zur Kündigung stellen, wird dieser auch genehmigt. Selbst wenn ein Unternehmen sich verkleinert oder im schlimmsten Fall Konkurs anmeldet, kann man sich natürlich auch von Menschen mit Behinderungen trennen. Aber wenn man jemanden kündigen will, weil beispiels­weise eine Einschränkung eingetreten ist und die Person nicht mehr so leistungs­fähig ist wie zuvor, dann müssen die Integrations­ämter auch die Chance haben, sich für den Erhalt des Arbeits­platzes ein­zu­setzen. Dieses Segment ist mit sehr vielen Vorurteilen behaftet, und es wäre wichtig, sich als Unternehmen damit zu beschäftigen. Aufseiten der Politik müssen wir gleich­zeitig dafür sorgen, dass Betriebe sich nicht mehr durch den Informations­wirr­warr und den Bürokratie-Dschungel kämpfen müssen, wenn sie Menschen mit Behinderungen einstellen möchten.

Herr Schumacher, wie unterstützt die VBG Unternehmen und Betroffene etwa nach einem schweren Arbeits­unfall mit lang­fristigen körperlichen Folgen?
Schumacher: Die VBG lebt Inklusion durch die Umsetzung ihres gesetzlichen Reha-Auftrags. Sie hilft Menschen auf viel­fältige Weise, die Einschneidendes wie einen schweren Arbeits­unfall erlebt haben. Derartige Ereignisse oder Berufs­krankheiten führen häufig zu Behinderungen, und wir helfen auf professionelle Weise betroffenen Menschen zurück ins Leben. Zurück in den Beruf über Leistungen zur Teilhabe am Arbeits­leben, aber auch zur sozialen Teilhabe, die nicht immer nur Geld­leistung bedeuten. Bei einem schweren Unfall betreiben alle Berufs­genossenschaften ein persönliches Reha-Management. Ziel ist es, innerhalb der ersten 30 Tage persönlich Kontakt mit der verunfallten Person auf­zu­nehmen, voraus­gesetzt, das ist gesundheitlich möglich. Der gesamte nach­gelagerte Prozess wird durch sogenannte Lotsinnen und Lotsen begleitet, die sich mit allen Phasen und Belangen, auch in der psychischen Beratung, auskennen. Darüber hinaus versuchen wir, wo nötig, Einfluss auf die Unternehmen zu nehmen, damit der Arbeits­platz der verunfallten Person erhalten bleibt. Die gesetzliche Unfallversicherung ist insofern vorbildlich, weil sie tatsächlich Leistungen aus einer Hand gewährt, und zwar kontinuierlich. Im Übrigen fühlen wir als Sozial­versicherungs­träger uns in besonderer Art und Weise dazu verpflichtet, auch innerhalb der VBG Inklusion zu leben. Für die VBG ist es normal, Menschen zurück ins Leben zu helfen. Wenn nicht wir, wer dann? Wir möchten Barrieren erkennen und abbauen, um mehr Menschen mit Schwer­behinderung oder ihnen gleich­gestellte Personen bei der VBG beschäftigen zu können.

Der Teilhabepreis der VBG zeichnet Unternehmen aus, die sich über Gebühr dafür einsetzen, verunfallten Menschen berufliche und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Welche Signal­wirkung ist mit dem Preis verbunden?
Schumacher: Mit dem Teilhabepreis möchten wir zeigen, dass man mit relativ geringem Aufwand Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung wieder in den normalen Arbeits­prozess integrieren kann. Mit diesem Engagement tut man nicht nur etwas Gutes, sondern Unternehmen profitieren davon, weil wertvolle Ressourcen weiter­genutzt werden. Vor dem Hinter­grund des Fach­kräfte­mangels sind Unternehmen gut beraten, sich qualifizierten Personen­gruppen zuzuwenden, die sie bislang vielleicht nicht auf dem Radar haben. Es lohnt sich, darüber nach­zu­denken, ob die Bilder von Menschen mit Behinderung, die Einzelne im Kopf haben, tatsächlich der Realität entsprechen. Unternehmerinnen und Unternehmer sollten sich auf die Option, Menschen mit Behinderung einzustellen, einlassen. Es gibt viele Beispiele, wo das wirklich gut funktioniert. Dieses Engagement möchten wir mit dem Teilhabepreis der VBG dokumentieren.

Inklusion in Unternehmen

In Deutschland leben 13 Millionen Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung. Acht Millionen von ihnen sind schwer­behindert, haben also einen GdB (Grad der Behinderung) von mehr als 50 Prozent. 1,3 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung stehen in einem sozial­versicherungs­pflichtigen Arbeits­verhältnis. Nur etwa 800.000 erhalten Leistungen der Ein­gliederungs­hilfe. In Deutschland müssen private und öffentlich-rechtliche Arbeit­geberinnen und Arbeit­geber, die 20 und mehr Arbeits­plätze anbieten, wenigstens fünf Prozent ihrer Arbeits­plätze mit schwer­behinderten Menschen besetzen. Ein Viertel aller beschäftigungs­pflichtigen Unternehmen beschäftigen jedoch nicht mal einen einzigen Menschen mit Behinderung. Wird diese Rechts­verpflichtung nicht erfüllt, ist für jeden unbesetzten Pflicht­arbeits­platz eine monatliche Ausgleichs­abgabe zu entrichten. Im Koalitions­vertrag ist festgehalten, dass eine vierte Stufe der Ausgleichs­abgabe für Betriebe eingeführt wird, die keine Menschen mit Behinderungen beschäftigen. „Wir gehen davon aus, dass dann pro unbesetztem Arbeits­platz 750 Euro zu entrichten sind“, so Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundes­regierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Dieses Geld wird voll­ständig zur Unter­stützung und Förderung auf dem allgemeinen Arbeits­markt eingesetzt. Unternehmen, die Mehrkosten aufwenden müssen, etwa durch die notwendige Umgestaltung eines Arbeits­platzes infolge einer eingetretenen Beeinträchtigung von Beschäftigten, profitieren in diesem Fall von der Zuführung von Ausgleichs­abgaben durch das zuständige Integrations­amt.

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