
Herr Dr. Carrero, wie sah Ihre Arbeit in den vergangenen Monaten aus?
Da durch das Coronavirus der Spielbetrieb der Profimannschaft des FC St. Pauli mehrere Wochen lang ausgesetzt war, habe ich mehr Zeit in meiner Praxis verbracht. Denn neben meiner Tätigkeit als Mannschaftsarzt bin ich außerdem Orthopäde in einer Gemeinschaftspraxis in der Hamburger Innenstadt. Seit klar war, dass der Spielbetrieb im Juni fortgesetzt würde, haben wir auch beim FC St. Pauli wieder Vollgas auf dem Trainingsplatz gegeben.
Sportmedizin ist Ihr Fachgebiet. Was macht Ihnen denn mehr Spaß: die Arbeit in der Praxis oder auf dem Vereinsgelände?
Es gibt zwar auch einige Mannschaftsärztinnen und Mannschaftsärzte, die ihre Tätigkeit im Verein hauptberuflich ausführen, doch die meisten sind zudem noch praktizierende Ärztinnen und Ärzte – wie ich. Ich würde weder das eine noch das andere missen wollen. Aber klar: Die Arbeit mit der Mannschaft fehlte mir natürlich schon.
Wie sieht Ihr Alltag als Mannschaftsarzt normalerweise aus?
Ich bin im engen Austausch mit den Vereinsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern, insbesondere natürlich mit dem Trainerteam, den Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten und natürlich mit den Spielern selbst. Für die Profimannschaft der Herren sind zwei Mannschaftsärzte zuständig. Jeder von uns ist normalerweise einmal wöchentlich für eine Sprechstunde auf dem Vereinsgelände, um mit den Spielern ins Gespräch zu kommen und ihre Anliegen zu besprechen. Wir haben zum Beispiel auch zwei Vorträge zu dem Coronavirus gehalten und die Spieler auf die Veränderungen, die damit einhergehen, eingestellt. Das ist insgesamt ganz viel Präventionsarbeit, um Erkrankungen oder Verletzungen zu vermeiden. Wenn ein Spieler doch verletzt ist, kümmere ich mich um die Behandlung und die Genesung.
Wie würden Sie Ihre Beziehung zu den Spielern beschreiben?
Es besteht ein großes Vertrauensverhältnis, das muss auch sein. Wir haben ja auch einige Spieler im Kader, die aus dem Ausland kommen und für die auch die medizinischen Abläufe in Deutschland und dann gerade im Profifußball neu sind. Da ist es ganz wichtig, dass jeder jedem vertraut. Durch mein Alter, ich bin 51, bin ich für viele auch ein wichtiger Ansprechpartner, worüber ich natürlich glücklich bin. Aber es ist natürlich eine sehr professionelle Beziehung – alle wissen, dass es bei den Entscheidungen auch um den Verein geht.
Das Training hat sich in den letzten Jahren immer weiter professionalisiert. Gibt es heute weniger Verletzungen als früher?
Das stimmt, die Arbeitsbedingungen haben sich stark verbessert – von der Qualität der Trainingsplätze bis hin zu ausgeklügelten Ernährungsplänen. So etwas war früher eher hintergründig. Allerdings sind die Verletzungen, vor allem kleinere Muskel-, Bänder- oder Sehnenverletzungen, generell im Leistungssport eher mehr geworden. Das liegt daran, dass die Intensität des Wettkampfs heutzutage viel höher ist. In jeder Sportart gehen die Athletinnen und Athleten dauerhaft bis an ihre Grenzen, da kommt es zwangsläufig zu Verletzungen. Umgekehrt könnte man sagen: Ohne professionelle Strukturen würden die Verletzungen bei dieser Wettkampfhärte noch mehr und gravierender sein. Trotzdem möchte ich als Mannschaftsarzt natürlich, dass Verletzungen und Unfälle auf ein Minimum reduziert werden.
Hat sich denn die Erwartungshaltung an das medizinische Personal geändert?
Ich denke schon, dass es mittlerweile eine andere Erwartungshaltung und dadurch mehr Druck gibt. Aber das ist nicht unbedingt negativ, denn der Druck sorgt bei allen Beteiligten für die bestmögliche Leistung – auch bei uns. Und es ist auch eine Wertschätzung für unsere Arbeit, wenn sich unsere Arbeitsbedingungen verbessern.
Eine Verletzung im Profisport kann die Athletinnen und Athleten weit zurückwerfen oder sogar ihre Karriere gefährden. Wie gehen Sie und die Spieler mit diesem Druck um?
Für mich als Arzt ist es eigentlich eine normale Behandlung wie bei anderen Patientinnen und Patienten auch. Ich muss immer maximal sorgfältig sein und die beste Behandlung für die Person einleiten – ob Profifußballer oder nicht. Für die Spieler sind schwerwiegende Verletzungen natürlich ungleich schlimmer – physisch und psychisch. Das alles wird von uns in unserer Behandlung berücksichtigt. Selbst nach schweren Verletzungen wie einem Kreuzbandriss kommen die Spieler wieder zurück. Ein Karriereende nach einer Verletzung musste ich in meiner Laufbahn zum Glück noch nicht erleben.
Sie waren und sind auch als Mannschaftsarzt und medizinischer Betreuer in anderen Sportarten aktiv. Worin unterscheidet sich die Arbeit für ein Fußballteam von der für ein Eishockeyteam?
Die Unterschiede sind größer, als man vielleicht annimmt. Allein durch die unterschiedlichen Regeln ist die Betreuung der Mannschaften eine ganz andere. Während beim Fußballspiel nur drei beziehungsweise aktuell fünf Spielerwechsel möglich sind, passieren diese beim Eishockey laufend. Wer also beim Fußball in der Startformation steht, muss unbedingt fit sein, sonst ist der Wechsel praktisch schon verschenkt. Beim Eishockey können auch leicht verletzte Spieler oder Spieler nach einer Verletzung durch viele Kurzeinsätze wieder in den Rhythmus finden. Ein anderes Beispiel: Wenn sich ein Fußballspieler das Innenband im Knie reißt, fällt er etwa zehn Wochen aus, bis er wieder spielt. Ein Eishockeyspieler kann aber vielleicht schon nach drei Wochen wieder aufs Eis, weil er eine Schiene tragen darf, die auf dem Fußballplatz verboten ist. Die Verletzungen an sich ähneln sich allerdings schon – in der Regel sind die Muskeln oder Bänder betroffen. Und Verletzungen passieren im Sport natürlich immer wieder.
Wenn sich Verletzungen schon nicht ganz vermeiden lassen, wie optimiert man dann die Regeneration der Verletzten?
Wie gesagt, durch gute Präventionsarbeit lassen sich die Unfälle schon minimieren. Aber sicher: Ganz verletzungsfrei schafft der Kader es nicht durch die Saison. Deshalb muss es so sein, dass die verletzten Spieler optimal betreut und behandelt werden. Das geschieht ja nicht nur durch uns, sondern auch durch die VBG als zuständige Berufsgenossenschaft. Ich erinnere mich an einen Spieler, der – gerade aus dem Ausland zum FC St. Pauli gewechselt – verletzt ins Krankenhaus musste. Der Arzt hatte gerade erst einen Blick auf die Akte geworfen, da war schon eine Kollegin der VBG dort und hat sich um die Betreuung des Spielers gekümmert. Das zeigt, dass sich alle aufeinander verlassen können.
Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit der VBG ansonsten aus?
Wir stehen als Verein mit der VBG in engem Kontakt – unter anderem mit den Sportreferentinnen und -referenten. Auf dem jährlichen Präventionssymposium Fußball trifft man sich und tauscht sich aus. Wir sind auch dankbar, dass wir ein Projekt zur Untersuchung von Gehirnerschütterungen bei Sportlerinnen und Sportlern machen dürfen, das unter anderem von der VBG unterstützt wird. Das kann auch für den gesamten Fußballsport wichtig sein. Da ist die VBG sehr engagiert, um innovative Lösungen zu finden und zu fördern.
Wie geht es jetzt für Sie als Mannschaftsarzt während der Coronavirus-Pandemie weiter?
Die Spieler haben die letzten Wochen vor der Fortsetzung der Saison ein individuelles Programm absolviert, um selbststständig fit zu bleiben. Dann durften wir langsam wieder in Kleingruppen trainieren – nun wieder komplett. Dabei richten wir uns immer nach den geltenden Bestimmungen. Der Vorteil der Pause: Verletzte Spieler konnten ihren Rückstand wieder aufarbeiten. Gleichzeitig mussten wir aufpassen, dass sie der Belastung auch standhalten, denn der Spielrhythmus war mit der Fortsetzung direkt sehr intensiv.
Wie haben Sie die Spiele erlebt?
Natürlich haben wir alle darauf hingefiebert, dass es wieder losgeht. Aber klar ist auch: Es gibt Wichtigeres als Fußball. Es sterben noch immer Menschen auf der ganzen Welt an dem Coronavirus. Die Gesundheit genießt daher höchste Priorität. Doch der Fußball bringt auch ein Stück Normalität mit sich – auch ohne Fans in den Stadien. Wenn ich aber ehrlich bin: Ich freue mich immer noch am meisten auf die Fans, auf die Stimmung im Stadion, denn das ist beim FC St. Pauli ja auch etwas ganz Besonderes.
M-Arzt-Verfahren
Am 1. Januar 2016 startete die VBG das „Mannschaftsarzt-Verfahren“ mit dem Ziel einer Reduzierung der Anzahl und Schwere von Verletzungen im unfallversicherten Sport. Das M-Arzt-Verfahren stellt eine Alternative zur durchgangsärztlichen Behandlung (D-Ärztin oder D-Arzt) dar und sichert die weitere Betreuung der Berufssportlerinnen und Berufssportler – insbesondere für jene, die von Mannschaftsärztinnen und -ärzten betreut werden, deren H-Arzt-Zulassung (H-Ärztin oder H-Arzt = an der Heilbehandlung beteiligte Ärztin oder beteiligter Arzt) zum 31. Dezember 2015 gemäß der neuen Regelung ausgelaufen war. Um die berufsgenossenschaftliche Betreuung der Berufssportlerinnen und Berufssportler weiterhin auf höchstem Niveau sicherzustellen, hat die VBG als Träger der Heilverfahren das neue Verfahren implementiert. Für den M-Arzt bzw. die M-Ärztin ist neben infrastrukturellen und medizinischen Voraussetzungen auch die Teilnahme an verschiedenen Kursen vorgesehen. Nachdem das M-Arzt-Verfahren als Modellprojekt begann, wird es nun in einen dauerhaften Prozess übergeleitet.
Weitere Informationen zum M-Arzt-Verfahren der VBG gibt es hier.
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