
Noch am Tag vor dem Unglück werden Risse im Gebäude entdeckt. Aber mehrere Tausend Beschäftigte werden nicht evakuiert, sondern genötigt, ihre Arbeit fortzusetzen. Stunden später sterben über 1.000 von ihnen in den Trümmern der Textilfabrik. Es gibt über 2.000 Verletzte und viele Angehörige, die vor dem wirtschaftlichen Ruin stehen, denn Versicherungen gegen die Folgen von Arbeitsunfällen existieren in der Zeit noch nicht. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung)
Die Bilder des schweren Unglücks in Sabhar vor acht Jahren gingen um die Welt. 25 Kilometer nordwestlich der Hauptstadt Dhaka war die achtstöckige Textilfabrik Rana Plaza einfach eingestürzt. Ein verheerendes Unglück, vor dem auch westliche Länder nicht die Augen verschließen konnten, denn die hier hergestellte Kleidung wurde exportiert, unter anderem für europäische Modefirmen.
Bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) beschlossen Verantwortliche, etwas zu tun. Gemeinsam mit internationalen Organisationen und Unternehmen, die hier produzieren, setzen sie sich seither in Bangladesch für Arbeitsschutz im Textil- und Ledersektor ein.

Dr. Stefan Hussy ist seit 2018 Hauptgeschäftsführer des Spitzenverbands der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV e. V.).
Foto: DGUV/Jan RöhlDr. Stefan Hussy, Hauptgeschäftsführer der DGUV, spricht über Herausforderungen und Chancen, hier ein System nach deutschem Vorbild zu etablieren. Er selbst ist ausgebildeter Eisenhütteningenieur, dessen Karriere nach dem Studium in einem Stahlwerk begann. Als junger Betriebsleiter erlebte er den schweren Unfall eines Kollegen. Wie Berufshelferinnen und -helfer bereits im Krankenhaus einen Plan für die Rehabilitation entwickelten, beeindruckte den Ingenieur stark, sodass er sich nach sieben Jahren in der Industrie entschloss, eine Laufbahn in der gesetzlichen Unfallversicherung einzuschlagen und sich dem Thema Prävention zu widmen.
Herr Dr. Hussy, wie kam es dazu, dass die DGUV sich in Bangladesch aktiv bemühte, die Situation der Beschäftigten zu verbessern?
Nach dem Unglück stellte sich in Deutschland immer häufiger die Frage, wie wir damit umgehen sollten. 2013 einigten sich Vertreterinnen und Vertreter der dortigen Regierung mit den Sozialpartnern und der internationalen Textilindustrie auf einen Entschädigungsfonds. Und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) formulierte das Ziel, in Bangladesch eine Unfallversicherung nach bismarckschem Vorbild aufzubauen. Die soziale Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter sollte durch mehr Kontrollen und Entschädigungsfonds im Falle von Unfällen verbessert werden. Im September 2014 wurden mit dem dortigen Arbeitsministerium erste Vereinbarungen geschlossen. Es kam ein Kooperationsvertrag zustande, der den Wissenstransfer in den Fokus rückt. Menschen aus Bangladesch sollten in Deutschland trainiert werden. Auch Vertreterinnen und Vertreter der dortigen Sozialpartner sollten unsere Arbeitsschutzbedingungen kennenlernen.
Wer war und ist in Bangladesch besonders betroffen?
Fast 90 Prozent der Belegschaft sind gering qualifizierte Frauen, die für einen minimalen Monatslohn arbeiten. Auch Kinderarbeit ist ein Thema. Es gibt keine soziale Absicherung, oft auch keine Arbeitsverträge. Bei der Arbeit passieren viele kleine Unfälle, etwa Nagelstichverletzungen, Finger und Hände sind häufig betroffen. Gebäude sind nach wie vor nicht sicher, und der Brandschutz ist nicht geregelt. Das betrifft allerdings vor allem die kleineren Betriebe. Bei großen Unternehmen hat sich hier einiges getan.
Wie genau sieht Ihre Kooperation vor Ort aus?
In unserem Dresdener Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV haben wir vier Gruppen von jeweils 20 bis 30 Leuten ausgebildet. Diese Personen wurden zu Multiplikatoren, als sie zurückgingen und wieder andere überzeugten und qualifizierten. Dann entsenden wir Arbeitsschutzexperten vor Ort, die Veranstaltungen abhalten und aufklären. Außerdem braucht es in Bangladesch qualifizierte Personen, die das Geld aus den Sozialfonds verwalten, wenn jemand beispielsweise einen Unfall hatte. Inzwischen sind 300 von der DGUV qualifizierte Arbeitsschutzinspektoren in den Betrieben unterwegs. Sie prüfen Verkehrswege oder Brandschutzanlagen und schauen nach der Luftqualität, denn in Textilfabriken sammelt sich viel Staub an, und die Luft ist mit Chemikalien belastet.
Wie haben Verantwortliche vor Ort auf das deutsche Engagement reagiert?
Am Anfang ernteten wir Skepsis, weil Arbeitsschutz immer auch mit Kosten verbunden ist. Man muss verstehen, dass die Kultur in Bangladesch eine andere ist. Arbeitgebende sehen sich nicht unbedingt in der Verantwortung für ihre Mitarbeitenden. Das hat auch etwas mit der Religion zu tun: Man geht ganz anders mit Fragen zur Vergänglichkeit des Lebens um. Andererseits gibt es aber immer mehr Druck seitens der Unternehmen, die hier produzieren lassen. Deutsche Kundinnen und Kunden schauen immer häufiger darauf, dass Produkte unter menschenwürdigen Bedingungen hergestellt wurden. Es gibt politische Initiativen wie das Lieferkettengesetz. Das hat wiederum dazu geführt, dass diese internationalen Unternehmen gesagt haben: Produzentinnen und Produzenten, die mit uns im Geschäft bleiben wollen, müssen auch auf die Arbeitsbedingungen schauen. Seither gibt es eine größere Aufgeschlossenheit dafür, dass wir den Arbeitsschutz vor Ort vorantreiben.
Welche Unternehmen produzieren heute vor Ort?
In Bangladesch produziert das gesamte Spektrum der Textilindustrie – von der billigen Marke bis zur teuren. Alle lassen hier fertigen.
Welche Erfolge sind Ihnen bisher gelungen?
Die Katastrophe von Rana Plaza machte es einfacher, das Verständnis für Arbeitsschutz weiterzuentwickeln. 2019 konnten wir mit der Berliner Erklärung ein Rahmenabkommen schließen, bei der sich auch Vertreterinnen und Vertreter der bangladeschischen Regierung bekannten, eine Unfallversicherung nach dem System deutscher Gesetze einzuführen. Inzwischen haben wir erreicht, dass es viel weniger Unfälle gibt. Außerdem gibt es immer größere Entschädigungsfonds, denn Unternehmen zahlen ja Beiträge ein. Wir müssen jetzt sicherstellen, dass das Geld auch bei den Menschen ankommt, die Unfälle hatten und versorgt werden müssen.
Wie nehmen die Arbeiter und Arbeiterinnen das Thema an?
Wir beobachten einen kleinen, aber steten Wandel zu mehr Selbstbewusstsein, die eigenen Rechte wahrzunehmen und einzufordern. Es gibt einzelne Vertreterinnen und Vertreter, die sehr engagiert dafür kämpfen. Das wäre vor einigen Jahren in der Form noch nicht möglich gewesen.
Analphabetismus ist immer noch stark verbreitet in Bangladesch. Wie klären Sie eigentlich Beschäftigte auf, die weder lesen noch schreiben können?
Es gibt Gespräche, und wir arbeiten viel mit Bildern. Im Zuge der Coronavirus-Pandemie wurde beispielsweise eine App entwickelt, die über Bilder darlegt, worauf man achten muss. Das wird sehr gut angenommen.
Sie kooperieren in Bangladesch eng mit der GIZ, der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Wie helfen Sie sich?
Die GIZ bemüht sich seit Jahren, Arbeitsbedingungen im Textil- und Lederbereich zu verbessern, und kooperiert eng mit Partnerinnen und Partnern vor Ort. Sie finanziert darüber hinaus auch die Aktivitäten der DGUV in Bangladesch im Auftrag der Bundesregierung. Diese Kontakte nutzen wir. Denn der Zugang zum Netzwerk aus Wirtschaftsverbänden, Gewerkschaften und vor allem Arbeitgeberverbänden ist erfolgsentscheidend, wenn wir etwas bewegen wollen. Die GIZ ist auch Türöffner zu den wichtigsten politischen Akteurinnen und Akteuren. Es ist erfolgsentscheidend, auf solchen Ebenen ins Gespräch zu kommen. Inzwischen waren auch der Staatssekretär und der stellvertretende Arbeitsminister hier in Berlin, so konnten wir unter anderem die Berliner Erklärung zum Aufbau einer Unfallversicherung gemeinsam verabschieden.
Was ist Ihr Appell an Unternehmen, die in Bangladesch Textilien produzieren lassen?
Unternehmen sollten deutlich machen, dass ihnen gute Arbeitsbedingungen wichtig sind. Sie sollten die Partnerinnen und Partner vor Ort in die Pflicht nehmen. Man muss klar sagen: Wenn ihr lange mit uns Geschäfte machen wollt, dann müsst ihr gewisse Standards einhalten. Es ist notwendig, sich das nicht nur auf dem Papier bestätigen zu lassen, sondern sich das auch vor Ort anzuschauen. Ich sehe auch die Aufgabe der gesetzlichen Unfallversicherung darin, dass wir Unternehmen dabei unterstützen, die hier Geschäftsbeziehungen pflegen. Wenn sie sich an uns wenden, beraten wir sie, sodass Bedingungen geschaffen werden, die unseren Standards möglichst nahekommen. Das gilt nicht nur für Bangladesch, sondern auch für Länder wie Vietnam, Äthiopien oder China. Das kommt letztlich allen zugute – auch der Wirtschaft.
Inwiefern?
Es gab vor einigen Jahren ein internationales Projekt, bei dem man sich angeschaut hat, ob sich Investitionen in Sicherheit und Gesundheit auch wirtschaftlich rechnen. Im internationalen Mittel lag der sogenannte „Return on Prevention“ bei rund 2,20 Dollar je investiertem Dollar. Das zeigte deutlich, dass Investitionen in Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sich rechnen!
Gibt es etwas, was wir von Menschen aus Bangladesch lernen können?
Ja, sie gehen beispielsweise mit der Digitalisierung ganz anders um. Ein gutes Beispiel ist die App, die über Bilder vermittelt, wie sich Beschäftigte in der Coronavirus-Zeit verhalten sollten. Wir Deutschen neigen dazu, die hundertprozentige Lösung zu suchen. Wenn sie nicht hundertprozentig ist, ist sie nicht in Ordnung. In Bangladesch gehen Menschen oft einen anderen Weg. Sie nutzen kleine Dinge, akzeptieren Zwischenschritte. Das kann sehr effektiv sein. Die Bereitschaft, Zwischenschritte als etwas Wichtiges zu akzeptieren und nicht die hundertprozentige Lösung zu wollen – da können die Deutschen sich etwas abgucken.
Terminhinweis
Vom 20. bis zum 23. September dieses Jahres lädt die Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) und die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) zu ihrem 22. Weltkongress für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ein. Auf der virtuellen Veranstaltung diskutieren internationale Experten darüber, wie Präventions- und Arbeitsschutzmaßnahmen weltweit umgesetzt werden können.
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