
Dr. Susanne Roscher, leitende Arbeitspsychologin, und Dr. Jens Petersen, leitender Arbeitsmediziner bei der VBG, wissen, womit Unternehmerinnen und Unternehmer jetzt und bald konfrontiert sein werden.
Herr Dr. Petersen, seit zwei Jahren läuft die Coronavirus-Pandemie. Wie sind die Unternehmen damit zurechtgekommen?
Petersen: Im Großen und Ganzen haben die Unternehmen umfassend reagiert. Im Zuge einer branchenübergreifenden Umfrage haben wir im Zeitraum Anfang Februar bis Mitte März 2021 mit fast 300 Unternehmen gesprochen. Der Großteil war bereits zu diesem Zeitpunkt gut aufgestellt, hat die Gefährdungsbeurteilungen angepasst, den Umgang mit dem Homeoffice geregelt und funktionierende Hygienepläne für die betrieblichen Tätigkeiten durchgesetzt. Auf jeden Fall lässt sich erkennen, dass die Unternehmen die Unterstützungsangebote der VBG gut angenommen und die erforderlichen Arbeitsschutzmaßnahmen überwiegend umgesetzt haben.

Dr. Susanne Roscher ist davon überzeugt, dass Beschäftigte weiter unterstützt und wertgeschätzt werden müssen.
Foto: VBG/Selim SudheimerFrau Dr. Roscher, wie ist als Arbeitspsychologin Ihr Eindruck? Wie fühlen sich die meisten Unternehmen?
Roscher: Pauschal lässt sich das ganz schwer beantworten. Die Lage in den Unternehmen ist sicherlich sehr unterschiedlich, aber die Herausforderungen, die in den zurückliegenden Jahren der Pandemie gemeistert werden mussten, waren groß – nicht nur auf der organisatorischen Ebene, sondern auch in Bezug auf die individuellen Belastungen jeder und jedes einzelnen Beschäftigten und jeder Führungskraft. Homeoffice, Kinderbetreuung neben der Arbeit, Umgang mit Erkrankungen und Quarantäne, Arbeitsplatzunsicherheit, Konflikte, zum Beispiel jetzt aktuell auch in Bezug auf die Impfungen … Da kommt einiges zusammen, und so ein Mehraufwand hinterlässt seine Spuren. Insofern ist es enorm wichtig, auch die psychischen Belastungen im Blick zu behalten. Auch hierfür hat die VBG viele Unterstützungsangebote zur Verfügung gestellt.
Was sind denn jetzt konkret die größten Herausforderungen für Unternehmerinnen und Unternehmer?
Petersen: Aus arbeitsmedizinischer Perspektive ist das ganz sicher nach wie vor die Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben im Arbeitsschutz, die die Beschäftigten vor einer Infektion schützen sollen. Eine weitere Aufgabe ist die Umsetzung der Strategie der Bundesregierung, die weitere Ausbreitung von SARS-CoV-2 so gut wie möglich zu verhindern, etwa durch Impfungen. Viele Unternehmen haben bereits erfolgreich betriebliche Impfaktionen umgesetzt, auch zu den erforderlichen Boosterimpfungen. Eine künftige Herausforderung wird der Umgang mit und die Einordnung von Nachweisen zum Impf- und Genesenenstatus sein.
Frau Dr. Roscher, eine weitere Herausforderung, vor der Unternehmen stehen, ist auch das Thema Homeoffice und mobile Arbeit. Was können Sie uns hierzu berichten?
Roscher: Die Masse der Unternehmen ist mit der pandemiebedingten Notwendigkeit, die Beschäftigten ins Homeoffice schicken zu müssen, besser zurechtgekommen, als man das vielleicht erwarten konnte. Verschiedene Studien haben untersucht, wie die Unternehmen und die Beschäftigten die Erfahrungen mit dem Homeoffice in den vergangenen Monaten und Jahren bewerten und was sie für die Zukunft planen. Die Ergebnisse zeigen, dass davon auszugehen ist, dass sich die mobile Arbeit, insbesondere das Homeoffice, zukünftig in der Arbeitswelt etablieren wird. Dies geht mit verschiedenen möglichen Risiken und Gefährdungen, aber auch Chancen für die Gesundheit von Beschäftigten einher. Themen wie die Erfüllung des Arbeitsschutzes bei diesen neuen Arbeitsformen, ergonomische Ausstattung von Arbeitsplätzen, Arbeitszeitregelungen, Gestaltung von Führung auf Distanz, aber insbesondere auch der Erhalt eines sozialen Miteinanders bei der Arbeit stehen hierbei im Mittelpunkt. Auch mit Blick auf die Zeit nach der Pandemie gilt es hier, die Arbeit proaktiv so zu gestalten, dass auch weiterhin sicher und gesund gearbeitet werden kann.

Dr. Jens Petersen macht sich aktuell Gedanken um die arbeitsmedizinische Betreuung von Beschäftigten.
Foto: VBG/Oliver ReetzHerr Dr. Petersen, mit dem Coronavirus hat die mobile Arbeit viele neue Perspektiven erhalten. Dies wird auch nach dem Abflauen der Pandemie so bleiben. Was ist aus betriebsmedizinischer Sicht hier zu bedenken?
Petersen: Für uns war und ist es im Interesse unserer Mitgliedsunternehmen besonders wichtig, aufzuzeigen, wie die betriebsmedizinische Versorgung der Beschäftigten auch ohne Anwesenheit im Betrieb erfolgen kann, beispielsweise was die Durchführung von arbeitsmedizinischer Vorsorge oder Beratung, die betriebliche Wiedereingliederung oder die betriebsärztliche Betreuung von chronisch Kranken betrifft. Bei verstärkter mobiler Arbeit geht es uns erst mal darum, die mobil Arbeitenden genauso gut wie die im Betrieb anwesenden Beschäftigten zu versorgen und ihnen passende Angebote zu machen. Hier sind telemedizinische Anwendungen hilfreich. Das Thema betrifft aber auch die Gesundheitsförderung, die vor der Pandemie in vielen Unternehmen sehr gut umgesetzt war. Jetzt gilt es, darüber hinaus zu berücksichtigen, dass die betroffenen Beschäftigten zu Hause sitzen und diese Angebote ganz anders, zum Beispiel digital, gestaltet werden müssen.
Frau Dr. Roscher, was ist aus Sicht der Arbeitspsychologie in Bezug auf mobile Arbeit und Homeoffice zu beachten?
Roscher: Nach der Pandemie wird es ein „new normal“ geben: Büroarbeit, mobile Arbeit und Homeoffice werden zeitgleich stattfinden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu befördern, dass eine Verständigung auf betrieblicher Ebene über die Bedingungen von ortsflexibler Arbeit stattfindet und gemeinsame Lösungen gefunden werden, die für alle Beteiligten ein hohes Maß an Handlungssicherheit bieten. Hier sind verschiedene Aspekte unter anderem wichtig: die Arbeitsorganisation, wenn zukünftig nicht mehr alle Beschäftigten gleichzeitig im Büro sein werden, Verständigung über Arbeits- und Erreichbarkeitszeiten, Weiterentwicklung der Unternehmenskultur und Führung sowie natürlich die Gestaltung des sozialen Miteinanders, wenn zukünftig die Beschäftigten sich nicht mehr alle im Büro begegnen werden. Alle genannten Punkte haben Einfluss auf die Gesundheit von Beschäftigten, wirken sich aber darüber hinaus auch auf die Produktivität und Arbeitsfähigkeit von Unternehmen aus. Die VBG unterstützt ihre Mitgliedsunternehmen auf dem Weg in diese neue Normalität, etwa mit neuen Informationsmaterialien.
Herr Dr. Petersen, womit sollten Unternehmerinnen und Unternehmer sich außerdem intensiver beschäftigen?
Petersen: In allen Branchen kehren nun auch verstärkt Beschäftigte an ihre Arbeitsplätze zurück, die eine Infektion mit dem Coronavirus durchgemacht haben. Einige davon weisen Langzeitfolgen auf, die als Post-COVID-Syndrom eingeordnet werden können. Damit gehen Einschränkungen der körperlichen Belastbarkeit oder beispielsweise der Lungenfunktion, neurologische Defizite und Gedächtnisverlust einher. Die Unfallversicherungsträger haben hier gemeinsam mit den BG Kliniken ein Stufenkonzept entwickelt, um Versicherte, die im Rahmen der Tätigkeit an einer Infektion erkrankt sind, optimal zu betreuen. Auch hier haben Betriebsärzte und Betriebsärztinnen eine wichtige Lotsenfunktion.
Werfen wir zum Schluss einen Blick in die Zukunft. Irgendwann werden in den Betrieben wieder Lockerungen erfolgen. Herr Dr. Petersen, wann wird es so weit sein, und was ist diesbezüglich schon jetzt zu bedenken?
Petersen: So weit sind wir aktuell noch nicht. Tatsächlich steigen die aktuellen Infektionszahlen dramatisch an, und die Maßnahmen, die derzeit umgesetzt werden, müssen weitergeführt werden. Wir befinden uns jetzt in der größten Welle, die wir je hatten, mit einem hochinfektiösen Virus, sodass unter Umständen kurze Kontakte, etwa im Büro, für eine Infektion ausreichen können. An Lockerungen ist daher derzeit nicht zu denken. Wenn es so weit ist, sollte es planvoll erfolgen, und die Unternehmen müssen vorbereitet sein. Aktuelle Prognosen lassen die Hoffnung zu, dass wir diese Pandemie in einigen Monaten deutlich besser unter Kontrolle haben werden, wenn wir jetzt alles dafür tun, die Ausbreitung weiter zu bremsen. Jetzt ist durchhalten angesagt!
Frau Dr. Roscher, wie lautet Ihre Empfehlung für vorausschauende Unternehmerinnen und Unternehmer?
Roscher: Beschäftigte und Führungskräfte haben in den letzten zwei Jahren viel geleistet. Sie haben IT-Umstellungen gewuppt, sich in bis dahin unbekannte Videokonferenzsysteme eingearbeitet, vielfältige zusätzliche Belastungen bewältigt und nach besten Kräften versucht, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Ich würde jeder Unternehmerin, jedem Unternehmer raten, nicht einfach darüber hinwegzugehen. Wenn es in der Zukunft so weit sein sollte, dass die Infektionszahlen sinken und zu einer neuen Normalität zurückgekehrt werden kann, hilft es auch, noch einmal zurückzuschauen und den Beschäftigten Wertschätzung für das Geleistete auszusprechen, sich gemeinschaftlich „auf die Schulter zu klopfen“. Es ist wichtig, gemeinsam auf die „lessons learned“ zu schauen, sich zu fragen, was lief gut, was lief vielleicht auch nicht so gut, und als Organisation daraus zu lernen. Das macht das Unternehmen und seine Beschäftigten gemeinsam stark für Herausforderungen, die in der Zukunft warten.
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