

Endlich wieder spielen. Ende August geht es wieder los.
Foto: VBG/Oliver HardtWer sich dem Hamburger Thalia Theater in Pandemiezeiten nähert, entdeckt auf den ersten Blick kaum etwas Außergewöhnliches. Theaterplakate weisen auf kommende Produktionen hin. Die Daten verwirren. März, April, Mai. Ist das nicht alles schon vorbei? Im Schaufenster findet sich ein Hinweis: „Kein Spielbetrieb bis 30. Juni.“ Damit folgt das Theater der Allgemeinverfügung der Gesundheitsbehörde Hamburg, um die Stadt vor einer Verbreitung des Coronavirus zu bewahren. „Theaterleute gehen gern davon aus, dass Theater das Wichtigste auf der Welt sind. Aber natürlich ist das Menschenleben viel wichtiger“, begründet Intendant Joachim Lux seine Entscheidung, am 13. März 2020 zunächst den Betrieb im ganzen Haus lahmzulegen. „Die Proben wurden uns von der Stadt nicht untersagt, sondern die habe ich – und zwar von einer Sekunde auf die nächste – offensiv eingestellt und gesagt, jetzt gehen einfach mal alle nach Hause“, blickt er zurück. „Alle waren verängstigt.“
Die Schockstarre dauerte allerdings nur kurz. „Die Schauspielerinnen und Schauspieler haben sofort auf Videoproben umgestellt. Das war ein Zufall, weil eine junge Regisseurin das vorgeschlagen hatte“, erinnert sich Lux, der das Haus seit 2009 führt. Seit dem 11. Mai sind auch im Theater wieder Stimmen zu hören. Es wird wieder geprobt. „Alle hier wollten so bald wie möglich weitermachen“, erklärt der Intendant des seit 1843 bestehenden Theaters.
Vorhang auf
Daran, dass es so schnell wieder losgehen konnte, ist Kerstin Budde maßgeblich beteiligt. Als Geschäftsführerin und Gesellschafterin der that hamburg GmbH, einem Dienstleistungsunternehmen für Theaterbetriebstechnik und -sicherheit, berät sie mit dem Thalia Theater insgesamt neun Spielstätten in Hamburg. Auch beim deutschen Finale des Eurovision Song Contests in der Elbphilharmonie mit 130 Beteiligten hat sie für Sicherheit und Gesundheit gesorgt.
Bereits im März 2020 hatte Budde ihre erste Gefährdungsbeurteilung für die Wiederaufnahme des Betriebs beim Thalia Theater erstellt. Zunächst ging es darum, die Produktion von Dekoration zu ermöglichen. Eine Woche später folgte die Gefährdungsbeurteilung für den Probenbetrieb, die nicht nur die Sicherheits- und Hygienemaßnahmen für Schauspielerinnen und Schauspieler, sondern auch für Licht- und Tondesignerinnen und -designer, das Regie-Team, Souffleusen und Souffleure sowie Inspizientinnen und Inspizienten regelt. „Wir waren sehr schnell. Das kam mir entgegen, weil ich zunächst nach dieser Schließung sehr verwirrt war. Eine Situation, die man erst mal gar nicht beurteilt, kenne ich als Sicherheitsingenieurin nicht. Glücklicherweise war man sich im Thalia Theater einig, die Strukturen und Prozesse so verändern zu wollen, dass die Arbeit weitergehen könne“, erinnert sie sich. „Gemeinsam mit Geschäftsführung, Intendanz, künstlerischem Betriebsdirektor, Betriebsrat, Ensemblevertretung und Betriebsärztin haben wir eine Taskforce gebildet, die sich wöchentlich trifft und alles gemeinsam durchgeht und entscheidet.“
Die 48-jährige Diplom-Ingenieurin spielt seit ihrer frühen Jugend selbst Theater. Sie studierte Theater- und Filmtechnik an der Fachhochschule Hamburg, arbeitete als freie Technikerin und Beleuchtungsmeisterin sowie als Bühnenbildassistentin. 2003 heuerte Budde bei that an und absolvierte die Zusatzausbildung zur Fachkraft für Arbeitssicherheit bei der VBG. Seitdem ist sie dort auch selbst freiwillig gegen Arbeitsunfälle versichert. Auch an der aktuellen VBG-Handlungsempfehlung zur Umsetzung des SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandards an Theatern hat sie mitgearbeitet. Diese bietet Hilfestellung für den Probenbetrieb in Veranstaltungs- und Produktionsstätten für szenische Darstellung. „Für mich war es wichtig, erst mal überhaupt etwas Verbindliches in der Hand zu haben, an das wir uns halten können“, erklärt Budde. Für den Bereich Ausstattungen gibt es ebenfalls eine Handlungshilfe der VBG. Beide werden dynamisch an den jeweiligen Status der Pandemie angepasst. Gegenwärtig finden dort auch die in der neuen SARS-CoV-2-Arbeitsschutzregel der Bundesregierung aktualisierten Anforderungen und Empfehlungen bezüglich der Themen verstärkter Lüftung und dadurch die Möglichkeit zur Reduzierung von Abständen beim Singen und Sprechen Berücksichtigung.

Sicher und stilvoll: Mund-Nasen-Schutz mit Thalia-Branding.
Foto: VBG/Oliver Hardt
1,5 Meter Abstand gelten auch für die Zuschauer.
Foto: VBG/Oliver HardtProben proben
„Gerade für die künstlerischen Prozesse wie Regie und Bühnenbild ist die gegenwärtige Situation wirklich eine wahnsinnige Herausforderung“, führt Budde aus. Sie freut sich über den Zusammenhalt. „Bislang hat niemand gesagt, dass er oder sie nicht mehr kann oder will.“ Dabei seien die Bedingungen so anders, dass „wir erst mal das Proben neu proben mussten“, sagt Intendant Lux.
Etwa die Abstandsregelungen: Aktuell müssen die Schauspielerinnen und Schauspieler ohne Mund-Nasen-Schutz mindestens eineinhalb Meter Abstand halten, bei exzessivem Sprechen oder Singen sogar sechs Meter, führt Budde aus. „Das Schauspielhaus (ein weiteres Staatstheater in Hamburg, Anm. d. Red.) verwendet Schwimmnudeln als Abstandshalter. Wir versuchen es zunächst mit Augenmaß. Die Bühnenmeisterinnen und -meister haben als Aufsicht führende Personen den Abstand im Blick, müssen aber nur selten eingreifen. Alle gehen mit der Situation sehr verantwortungsvoll um“, so Budde. Requisiten dürfen nicht weitergegeben werden, ohne vorher desinfiziert zu werden. Ein weiteres Problem ist die Lüftung: „Die Probebühnen sind auf die diesbezüglichen Anforderungen nicht ausgelegt. Wir müssen daher nach jeweils einer Stunde pausieren“, erklärt die Sicherheitsingenieurin.
Auch das Bühnenbild ist betroffen. Manchmal können zusätzliche Wände dort eingezogen werden, wo es passt. Manchmal müssen bereits gebaute Kulissen komplett umgebaut werden. „Gerade die Videotechnik eignet sich im Moment, um intimere Szenen zu drehen und projizieren zu können“, verrät Budde.
Und wie ist es mit Kostümen und Masken? „Bis zu den Endproben müssen sich die Schauspielerinnen und Schauspieler selber schminken. Bei den Aufführungen selbst brauchen sie eine erhöhte Konzentration, und die Maskenbildnerinnen und Maskenbildner werden sich an die Auflagen für den Kosmetikbereich halten, also FFP2-Masken und Visiere tragen“, berichtet die Sicherheitsingenieurin.
„Was die eingeschränkte Nutzung des Zuschauerraumes angeht, gibt es grundsätzlich zwei Konzepte“, erklärt Budde. Beim „Schachbrett“ wird jede Reihe versetzt besetzt, bei den „leeren Reihen“ wird nur jede zweite Reihe besetzt, und zwischen einer sogenannten Infektionsgemeinschaft, wie die Menschen genannt werden, die gemeinsam das Theater besuchen, bleiben zusätzlich Plätze frei. Der neue Saalplan des Thalia Theaters setzt auf „leere Reihen“ und wird daher nur noch ein Viertel der eigentlich rund 1.000 Besucher und Besucherinnen fassen können.
Solo für Arbeitssicherheit
Ihre Tätigkeit begreift Kerstin Budde als Fundament für funktionierendes Theater. „Als Hobby spiele ich Elektro-Bass, und so verstehe ich auch meine Arbeit. Ich bin die Basslinie im Unternehmen. Wenn diese nicht da ist, klingt das Stück nicht gut, sprich, dann funktioniert der Betrieb nicht. Im Moment habe ich ein Bass-Solo. Die Aufmerksamkeit liegt auf der Arbeitssicherheit wie nie zuvor. Und wie das so ist mit Bass-Soli, ich freue mich schon, wenn es wieder vorbei ist.“

Das Foyer bleibt auch künftig leer. Die meisten Vorstellungen werden ohne Pause gespielt.
Foto: VBG/Oliver HardtAuch Intendant Lux freut sich auf die schrittweise Rückkehr zur Normalität: „In der Zeit des Shutdown haben wir die Hälfte unserer Jahresproduktion gestoppt, unterbrochen oder nicht anfangen können. Lediglich drei Produktionen können jetzt auf Pandemie-Bedingungen angepasst werden.“ Auf die Frage, ob er der ganzen Situation auch etwas Positives abgewinnen könne, antwortet der 62-Jährige: „Künstlerinnen und Künstler haben zu allen Zeiten auf katastrophale Umstände mit Fantasie geantwortet. In diesem Sinne hoffe ich, dass aus dem Handicap künstlerisch irgendetwas passiert, was sonst nicht passiert wäre.“
Kerstin Budde denkt in eine ähnliche Richtung: „Ich finde, dass Theater insbesondere im Umgang mit Krisen und Veränderungen sehr gut ist. Bei uns passiert es oft, dass sich Produktionen weiterentwickeln und etwas Geplantes dann nicht mehr passt. Vielleicht haben wir anderen Branchen diesbezüglich etwas voraus. Es gibt eine Theorie, dass künstlerische Arbeit durch Widrigkeiten noch mal eine andere Qualität bekommt. Wenn diese stimmt, müssten wir jetzt die besten Stücke produzieren, die wir je gemacht haben.“
Die VBG hat korrespondierend zum Arbeitsschutzstandard der Bundesregierung auf die Branchen zugeschnittene Handlungshilfen entwickelt. Mit diesen Veröffentlichungen unterstützt die VBG betroffene Mitgliedsunternehmen mit Informationen zu Verantwortlichkeiten, Pflichten und Verhaltensweisen sowie Hinweisen zur Umsetzung von Maßnahmen.
Veröffentlicht am