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Betriebsarzt sitzt vor dem Computer und berät eine Patientin digital
Foto: VBG/Thomas Eisenhuth

TelearbeitsmedizinArzttermin im Chatroom

Der Glasproduzent Pilkington hat am Modellprojekt Telearbeitsmedizin der VBG teilgenommen. Ein Erfahrungsbericht.

Es ist kurz vor Mittag, als Julia Waldmann von ihrem Arbeits­platz aufsteht. „Ich habe um zwölf den Termin mit Herrn Dr. Götzfried“, sagt sie. „Ach, ist der heute hier?“, fragt ihr Kollege. Waldmann lächelt verschmitzt und schüttelt den Kopf: „Du wolltest ja nicht.“ Die 30-Jährige läuft durch den Verwaltungs­trakt zum Arzt­zimmer. Sie öffnet die Tür und setzt sich an einen Computer. Nach ein paar Maus­klicks erscheint Dr. Alfons Götzfried auf dem Monitor. „Guten Tag, Frau Waldmann, ich möchte heute mit Ihnen die Resultate Ihrer letzten Lärm-Vorsorge durchgehen“, begrüßt sie der Betriebs­arzt.

Ein Videotelefonat mit dem Betriebsarzt
Julia Waldmann konsultiert ihren Betriebsarzt vom Büro aus. Foto: VBG/Thomas Eisenhuth
Betriebsarzt Dr. Alfons Götzfried vor dem Laptop

Dr. Alfons Götzfried kann sein Auto heute stehen lassen.

Foto: VBG/Thomas Eisenhuth

Was klingt wie Zukunftsmusik, ist im Pilkington-Werk in Weiherhammer längst Alltag. Das Glas­keramik­unternehmen hat im Rahmen eines VBG-Modell­projektes die Chancen und Grenzen der tele­medizinischen, betriebs­ärztlichen Versorgung im Rahmen eines VBG-Modell­projektes ausgetestet. „Tele­medizin ist ein Sammel­begriff für verschiedene ärztliche Versorgungs­konzepte, die in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Vorsorge bei der ärztlichen Entscheidungs­beratung über räumliche Entfernungen oder zeitlichen Versatz hinweg erbracht werden“, erklärt Dr. Jens Petersen, Leiter des Referats Arbeits­medizin bei der VBG und Regisseur des Projekts. Er ist sich sicher: „Tele­medizinische Methoden werden schon in naher Zukunft fester Bestand­teil nahezu jedes medizinischen Fach­gebiets, somit auch der Arbeits­medizin, sein.“

Dr. Jens Petersen

Dr. Jens Petersen betreut das VBG-Modellprojekt.

Foto: VBG/Oliver Reetz

Um besser einschätzen zu können, wie dies in der Praxis aussehen könnte, hat die VBG gemeinsam mit dem Institut und Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umwelt­medizin der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ein Modell­projekt aufgelegt, bei dem auch Prozess­standards für die betriebs­ärztliche Betreuung entwickelt werden sollen.

Das Projekt ermöglicht Beschäftigten wie Julia Waldmann zum Beispiel, die Ergebnisse ihrer letzten Vorsorge­unter­suchung per Video­konferenz mit ihrem Betriebs­arzt zu besprechen. Durch­geführt wurde die Unter­suchung einige Tage zuvor von einer Arzt­helferin. „Typische arbeits­medizinische Vorsorge wie ‚Lärm‘ oder ‚Bild­schirm­arbeits­plätze‘ können problem­los online erläutert werden“, erklärt Götzfried. Der 63-Jährige betreut Pilkington seit 2014 im Rahmen seiner Tätigkeit bei B·A·D Gesund­heits­vorsorge und Sicherheits­technik in Amberg. Die langfristige Einrichtung einer virtuellen Sprech­stunde wäre für ihn eine „erhebliche Entlastung“. Im oberpfälzischen Weiherhammer sind die Betriebs­ärzte viel unter­wegs: Dr. Götzfried verbringt rund 80 Prozent seiner Arbeitszeit im Außen­dienst – etwa im 35 Kilo­meter entfernten Pilkington-Standort in der Oberpfalz.

Das Flachglaswerk ist eines der größten in Deutschland. 520 Menschen arbeiten dort, 70 Prozent davon im Schicht­betrieb. Täglich werden 1.600 Tonnen Glas produziert. „Wir haben die Gläser für die Reichs­tags­kuppel in Berlin geliefert. Ein weiterer großer Auftrag war die Lieferung der Gläser für das Verwaltungs­gebäude von Apple im kalifornischen Cupertino“, schwärmt Werks­leiter Reinhold Gietl. Auch in Sachen Arbeits­sicherheit und Gesund­heits­schutz gilt das Werk als Aushänge­schild. Bereits zweimal hat es den VBG-Arbeits­schutz­preis erhalten. Und jetzt Tele­medizin? „Es wird doch überall versucht, Über­flüssiges weg­zu­lassen und Prozesse schlanker zu gestalten. Das nennt man heute Lean Management, und so sehe ich auch die Tele­arbeits­medizin“, erklärt der Diplom-Ingenieur.

Das neue Factsheet "Telemedizin in der betriebs­ärztlichen Betreuung" stellt das Thema unter Einbeziehung der Ergebnisse des Forschungs­projektes vor.

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Das Projekt selbst gliederte sich in drei Phasen. Zuerst wurden die aktuellen arbeits­medizinischen Betreuungen analysiert, um daraus die Bedarfe nach einer telematischen Betreuung abzuleiten. Bei Pilkington wurde dann eine virtuelle Plattform für tele­medizinische Nutzung eingerichtet und eine strukturierte Befragung von Arbeits­schutz­experten und Beschäftigten aus der Produktion durchgeführt. In der letzten Phase wurde umfassend evaluiert.

Als Personalleiter war auch Marco Götz in das telemedizinische Modellprojekt bei Pilkington involviert.
Werksleiter Reinhold Gietl (links) steht mit der VBG in regelmäßigem Kontakt. Als Personalleiter war auch Marco Götz in das Projekt involviert. Foto: VBG/Thomas Eisenhuth

Die Teilnahme war für alle Beschäftigten freiwillig. Pilkington-Personal­leiter Marco Götz war maßgeblich in die Planung involviert. „Die Ansätze im Projekt­ablauf waren sehr gut und ließen die Möglichkeiten der Telemedizin erahnen. Aufgrund der Projekt­dauer konnten aller­dings nicht alle Themen sofort umgesetzt werden, etwa die Video­sprech­stunde über den PC, direkt vom eigenen Arbeits­platz oder dem Handy aus“, verrät Human-Resources-Chef Götz. „Daten­schutz und Vertraulichkeit stellten ebenfalls eine Heraus­forderung dar, die im Modell­projekt jedoch hervorragend umgesetzt wurde“, so sein Resümee.

Marco Götz

Das Resümee des Werksleiters: Das Angebot wurde von der Belegschaft sehr gut angenommen.

Foto: VBG/Thomas Eisenhuth

„Im Großen und Ganzen kann ich sagen, dass das Angebot sehr positiv angenommen wurde, vor allen von denjenigen, die zuvor bereits Erfahrungen mit Video-Chats und digitalen Tools hatten“, berichtet Götz. Die Flexibilität sei insbesondere bei den Schicht­arbeitenden sehr gut angekommen. Und auch der Betriebsarzt freut sich über Bürokratie­abbau. „Die offiziellen Bescheinigungen können zukünftig als digitale Dokumente erstellt werden, sodass sie nicht mehr aus­gedruckt werden müssen. Das erspart uns Ärzten viel Zeit“, so Dr. Götzfried. Ein weiterer Bonus: Neben der Untersuchung gewinnt die Beratung in der Arbeits­medizin immer mehr an Bedeutung. So ermöglicht die Technik ärztlichen Beraterinnen und Beratern auch, sich an betrieblichen Arbeits­sicher­heits­sitzungen per Video zuzuschalten.

Die neu entstandene räumliche Distanz wurde Julia Waldmann zufolge auch positiv wahr­genommen: „Viele Kolleginnen und Kollegen meinten, es sei eine ganz andere Erfahrung gewesen, Herrn Dr. Götzfried nicht physisch gegen­über­zusitzen, sondern ihn nur auf dem Monitor zu sehen. Teil­weise baut das sogar Hemmungen ab.“ VBG-Experte Dr. Petersen bestätigt ihren Eindruck. Sein Fazit insgesamt: „Als Ergänzung und Verbesserung der betriebs­ärztlichen Versorgung ist Tele­arbeitsm­­zedizin wichtig und sinnvoll. Sie kann jedoch eine Erst­begehung eines Arbeits­platzes oder eine im Rahmen der Vorsorge erforderliche Untersuchung nicht ersetzen.“

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