
Ein Dienstag im Oktober in Homberg (Efze), Hessen, kurz vor Feierabend: Lara Schermer hat einen letzten Termin mit ihrem Vorgesetzten Andreas Krönke. Der sitzt allerdings in seinem Büro in Berlin, rund 300 Kilometer entfernt. Bis vor einem halben Jahr hat auch Schermer dort gelebt – bis sie im Rahmen des Projekts „Summer of Pioneers“ für ein halbes Jahr aus der Metropole in die hessische Kleinstadt zog. Deshalb finden Schermers Geschäftstermine in ihrer neuen Heimat hauptsächlich online am Laptop im Co-Working-Space statt.
Die Umstellung von Büro auf Homeoffice mussten vergangenes Jahr viele deutsche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Zuge der Coronapandemie machen. Laut einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung sind die Erfahrungen gemischt: Einerseits, so bewerten es die Befragten, entfällt im Homeoffice der persönliche Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen, zudem lassen sich persönliche Meetings durch digitale zum Teil nur schwer ersetzen. Andererseits ersparen sich Beschäftigte im Homeoffice das Pendeln, und sie können von einer erhöhten zeitlichen Autonomie profitieren. Auch nachdem die Büros wieder ihre Türen für die Angestellten öffneten, blieben viele lieber im Homeoffice. Andere wiederum mieteten sich in Co-Working-Spaces ein. „Arbeit flexibilisiert sich, sowohl räumlich als auch zeitlich. Viele Unternehmen befinden sich in einem Kulturwandel, weg von der Präsenzkultur, hin zu Vertrauensarbeit und einer neuen Führungskultur. Die Coronavirus-Pandemie ist hierfür nicht der Auslöser, sie hat die Prozesse allerdings rasant beschleunigt“, erklärte Homeoffice-Forscher Prof. Dr. Stefan Süß im Certo-Interview.

Andreas Krönke hat als Führungskraft keine Bedenken, wenn Angestellte ortsunabhängig arbeiten.
Foto: VBG/Luca Pot d'Or
Senior Communications Director Lara Schermer ist eine von 20 Teilnehmenden des „Summer of Pioneers“ in Homberg (Efze).
Foto: VBG/Luca Pot d'OrDigitale Termine kannte Lara Schermer schon vor Corona: „Seitdem ich bei PIABO bin, fanden viele unserer Meetings digital statt, weil unsere Kundinnen und Kunden über ganz Deutschland und international verteilt sind. Innerhalb unseres Teams haben wir uns damals aber noch fast täglich gesehen. Homeoffice konnten wir einmal in der Woche in Anspruch nehmen.“ Doch die Coronavirus-Pandemie hat auch bei der PR-Agentur PIABO, in der die 34-Jährige seit rund zweieinhalb Jahren als Senior Communications Director tätig ist, ein längerfristiges Umdenken hinsichtlich der Arbeitsstrukturen bewirkt: „Mittlerweile arbeiten fast alle Angestellten größtenteils im Homeoffice – und wir stellen nun sogar ortsunabhängig ein. Doch das Büro in Berlin ist trotzdem offen für jede und jeden.“
Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden mehr Freiheiten in der Wahl des Arbeitsorts und in der Gestaltung der Arbeitszeit gewähren, sind seit Corona keine Seltenheit mehr. Doch ein halbjähriges Abenteuer in der Kleinstadtidylle statt dem gewohnten Arbeitsumfeld in der Großstadt, das war für Lara Schermer und ihren Chef ein Schritt ins Ungewisse. „Ich habe während des letzten Jahres gemerkt, was mir in der Großstadt fehlt: die Nähe zur Natur, die Ruhe oder kreativer Freiraum zum Beispiel“, erzählt Schermer. Dann habe sie durch Zufall eine Anzeige auf der Netzwerkplattform LinkedIn gesehen, die sie aufhorchen ließ: Gesucht wurden „Digitalarbeiterinnen und Digitalarbeiter“, die das Landleben ausprobieren möchten. Für einen Zeitraum von sechs Monaten würde ihnen vergünstigter Wohnraum und ein Co-Working-Space gestellt, dafür sollten sie der Gemeinde mit ihrem Digitalwissen helfen. Schermer war direkt so begeistert, dass sie sich kurzerhand bewarb – und nur einige Tage später die Zusage erhielt.
Dass der Aufenthalt nur für ein halbes Jahr sein würde, erleichterte ihr die Entscheidung, so Schermer. Kurzerhand vermietete sie ihre Wohnung an einen Freund unter, packte drei Koffer und schilderte den Plan ihrem Chef. „Das Gespräch mit Andreas hat mir eigentlich die größten Sorgen bereitet. Ich hätte auch verstanden, wenn er Nein gesagt hätte.“ Doch Andreas Krönke war wie Schermer begeistert von der Idee: „Ich fand das Projekt sofort spannend, weil ich diesen Austausch zwischen Stadt und Land wichtig finde für unsere Gesellschaft.“ Er selbst sei beruflich auch viel unterwegs gewesen und habe oft remote gearbeitet, erzählt Krönke. Deshalb hatte er gar keine Bedenken wegen des Umzugs: „Ich kenne Lara ja schon länger. Das Vertrauen, dass so ein Schritt für beide funktioniert, ist auf jeden Fall da.“ Für ihn und das Unternehmen stehe an erster Stelle, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zufrieden sind – sowohl mit der Arbeit als auch mit ihrem Leben insgesamt. „Wenn ein Tapetenwechsel zum Glück verhilft, warum nicht!?“
Und ist Lara Schermer nun glücklicher in der Kleinstadt? „Die Gemeinschaft der Teilnehmenden, aber auch das Zusammenleben in der Kleinstadt war total motivierend. Es war zwar auch anstrengend, die eigene Arbeit und die Projekte in Homberg unter einen Hut zu bekommen, doch am Ende hat sich die ganze Erfahrung definitiv gelohnt“, resümiert Schermer.
Auch das Projekt „Summer of Pioneers“ in Homberg selbst war ein voller Erfolg. Die 20 Teilnehmenden haben in dem halben Jahr zahlreiche Projekte für die Stadt und die Menschen angeschoben und umgesetzt, zum Beispiel ein Open-Air-Kino oder Kunstausstellungen in leer stehenden Gebäuden. Die Stadt Homberg hat sogar noch längerfristig etwas davon, nämlich zehn neue Einwohnerinnen und Einwohner. Denn die Hälfte der Teilnehmenden des „Summer of Pioneers“ entschied sich nach Ablauf der sechs Monate zum Verbleib in der hessischen Wahlheimat. „Die Entscheidung, hier zu bleiben, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich habe ehrlicherweise auch ernsthaft überlegt, ob es für mich hier in Homberg weitergeht“, so Schermer. Doch erst einmal zieht es sie zurück nach Berlin. Ausgang ungewiss. „Ich freue mich unglaublich, mein Team wieder im Büro zu sehen. Denn den persönlichen Austausch kann man nun mal nicht ersetzen“, so Schermer. Und der Chef? Krönke: „Wenn Lara in Homberg geblieben wäre, hätte das auf ihre Anstellung natürlich keine Auswirkungen. Aber ich freue mich jetzt vor allem, bald mal wieder einen Kaffee mit ihr trinken zu können.“
- Ob im Büro, im Homeoffice oder im Co-Working-Space: Wie Beschäftigte am Bildschirm richtig arbeiten, verrät der VBG-Leitfaden für die Gestaltung von Bildschirm- und Büroarbeitsplätzen.
- Wie ein Co-Working-Space mit den Herausforderungen der Pandemie umgeht, lesen Sie hier.
- Für Führungskräfte ist das Führen aus der Ferne mit neuen Herausforderungen verbunden. Wie es gelingen kann, erklärt VBG-Arbeitspsychologin Dr. Susanne Roscher im Video.
- Unter dem Stichwort „Arbeitswelt 4.0“ vollziehen sich derzeit vor allem im Bereich der Büro- und Wissensarbeit große Umbrüche. Angesichts dieser Veränderungen stehen Unternehmen aktuell vor der großen Herausforderung, die Gesundheit und Motivation ihrer Beschäftigten zu fördern und dabei gleichzeitig die betrieblichen Bedürfnisse und Notwendigkeiten zu berücksichtigen. In Kooperation mit führenden Partnerinnen und Partnern der Sozialpolitik hat die VBG deshalb das Präventionsprojekt „Mitdenken 4.0 – Neue Präventionsansätze für Arbeitsprozesse in der Büro- und Wissensarbeit“ ins Leben gerufen.
Veröffentlicht am