
Der tägliche Griff zur Tablettenschachtel oder ein heimlicher Schluck aus dem Flachmann in der Schreibtischschublade – Suchterkrankungen sind auch am Arbeitsplatz allgegenwärtig. „Sucht kann in allen Branchen, allen Unternehmensbereichen und Hierarchiestufen vorkommen“, sagt Dr. Jens Petersen, der Leiter des Referats Arbeitsmedizin der VBG.
Noch immer gehört Alkohol zu den häufigsten Suchtmitteln in Deutschland. 2017 galten rund 1,3 Millionen Menschen als alkoholabhängig. „Auch im betrieblichen Kontext ist die Alkoholsucht eine der häufigsten Suchterkrankungen“, sagt Dr. Michael Neuber, der Betriebsarzt des Westdeutschen Rundfunks (WDR) in Köln. Etwa jeder zehnte Beschäftigte soll suchtgefährdet sein, jeder zwanzigste alkoholabhängig. „Eine Suchterkrankung führt nicht nur zu mehr Fehlzeiten und geringeren Leistungen, sie kann auch das Risiko von Unfällen im Betrieb erhöhen“, so Petersen. Laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen passieren 20 Prozent aller Arbeitsunfälle unter Alkoholeinfluss.
Prävention: Ein Offener Umgang ist entscheidend
Eine gut verankerte Präventionsstrategie ist somit unerlässlich. Beim WDR gibt es etwa Nichtraucherseminare und eine Dienstvereinbarung, mit der ein generelles Rauchverbot einhergeht. „Ein Übereinkommen, das das Verbot von Alkohol und anderen Suchtmitteln erfasst, ist kurz vor der Verabschiedung“, sagt Neuber. Von Maßnahmen, die „nur“ über Sucht aufklären, hält der Betriebsarzt wenig: „Auf diese Weise wird sich niemand davon abhalten lassen, süchtig zu werden.“ Elementar seien niedrigschwellige Hilfsangebote, etwa ansprechbare Vertrauenspersonen. Beim WDR bieten neben dem Betriebsarzt auch der Personalrat und die Schwerbehindertenvertretung ein offenes Ohr.
Risiko „Co-Abhängigkeit“
Noch immer schauen viele Menschen beim Thema Sucht weg. Vor allem im Arbeitskontext gibt es Bedenken, in die Privatsphäre des Mitarbeitenden einzudringen, oder die Sorge, die freundschaftliche Arbeitsbeziehung zu belasten. Betroffene zu decken oder ihre Arbeit zu erledigen ist eine Form der Co-Abhängigkeit, verschlimmert deren Lage noch. Neuber hält es für entscheidend, einen kommunikativen Raum zu schaffen, in dem das Thema nicht tabuisiert wird. „Sucht sollte auf breiter Ebene offen thematisiert werden – in den Betriebsmedien, in Führungskräfte- und Mitarbeiterschulungen.“
Der Fürsorgepflicht nachkommen
Auch die VBG bietet Workshops zur betrieblichen Suchtprävention an. Darin lernen die Teilnehmenden etwa, warum Suchterkrankungen von Mitarbeitenden keine Privatsache sind: Im Rahmen ihrer gesetzlichen Fürsorgepflicht sind Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber nämlich nicht nur zur Aufklärung verpflichtet, sondern auch zur frühzeitigen Intervention. Dazu genügt die subjektive Einschätzung der Führungskraft. „Es sind oft die Vorgesetzten, die Verhaltensauffälligkeiten am Arbeitsplatz als Erste bemerken und diese auch thematisieren können“, erklärt Neuber. Liegt ein Verdacht vor, müssen schnellstmöglich betriebliche Interventionsmaßnahmen ergriffen werden.
Konstruktiver Leidensdruck

Medienpaket Suchtprävention:
„Ohne arbeitsrechtlichen Druck gelingt es selten, einen Süchtigen in Therapie zu bringen“, sagt Neuber. Durch die betriebliche Intervention soll ein „konstruktiver Leidensdruck“ erzeugt werden, der zur Therapie motiviert. Bewährt hat sich dabei ein fünfstufiges Verfahren, das auch beim WDR in Köln angewandt wird. Am Anfang steht ein Gespräch zwischen der Führungskraft und dem Erkrankten. Darin wird das beobachtete Verhalten thematisiert und ein Hilfsangebot, zum Beispiel ein Termin beim Betriebsarzt, unterbreitet. Falls der Betroffene sein Suchtproblem nicht allein bewältigen kann und sich gegen eine Behandlung entscheidet, folgen weitere Gespräche, in denen als letzte Option die Kündigung ausgesprochen wird.
„Viele trockene Alkoholiker sagen, dass die Ansprache im Arbeitskontext ihnen erst den Weg aus der Sucht ermöglicht hat“, so Neuber. Nach erfolgtem Entzug und Wiederaufnahme der Arbeit begrenzt die engmaschige Betreuung durch den Betriebsarzt das Rückfallrisiko. „Es gibt sogar Mitarbeitende, die mich gebeten haben, sie unverhofft einzubestellen“, erzählt Neuber. Eine freiwillige Selbstkontrolle, die wirksam ist.
Wege aus der Sucht
Suchterkrankungen im Betrieb gefährden die Sicherheit aller Beteiligten. Wie Führungskräfte mit Sucht am Arbeitsplatz umgehen sollten.
Erkennen
Häufige Fehlzeiten, plötzlicher Leistungsabfall, akute Stimmungsschwankungen können Hinweise auf eine Suchterkrankung sein. Um als Arbeitgebender der Fürsorgepflicht nachzukommen und im Zweifelsfall einzuschreiten, ist kein objektiver Nachweis nötig. Es gilt der „Beweis des ersten Anscheins“, also die subjektive Einschätzung der Führungskraft aufgrund bestehender Beobachtungen oder Hinweise.
Handeln
Die betriebliche Intervention – etwa in Form eines vertraulichen Gesprächs mit der zuständigen Führungskraft sowie der Vorstellung beim Betriebsarzt – erzeugt beim Betroffenen einen „konstruktiven Leidensdruck“. Dieser kann Anstoß zu einer Verhaltensänderung sein. Die Entscheidung, sich helfen zu lassen, können Betroffene jedoch nur selbst treffen.
Helfen
Das Verschweigen oder Decken einer Suchterkrankung hilft Betroffenen nicht. Die offene Ansprache am Arbeitsplatz ist für viele Erkrankte oft der einzige Ausweg. Programme zur Prävention und Intervention bei Missbrauch und Abhängigkeit von Suchtmitteln sollten wichtiger Bestandteil der betrieblichen Gesundheitsförderung sein.
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