
Als Tim Jäger als junger Schulabsolvent ins Berufsleben eintreten wollte, bewies er Ausdauer und Flexibilität. Ob Kassel, Darmstadt, Kaiserslautern oder Trier: Er war für so gut wie jede Stadt in Hessen und Rheinland-Pfalz offen. 86 Bewerbungen verschickte er in die weite Arbeitswelt, und bei einigen wenigen keimte Hoffnung auf. So lud ihn eine Bank zum Vorstellungsgespräch ein. Ob sich seine Sehschwäche auch verschlechtern könne, wollte man wissen. Ja, antwortete der damals 20-Jährige ehrlich – und hörte nie wieder von dem Geldinstitut.

Sachbearbeiter Tim Jäger liest Schriftstücke mit Hilfe einer speziellen Handlupe.
Foto: VBG/Nathalie ZimmermannEine Arbeitsstelle zu finden ist schon für gesunde Menschen bisweilen nicht einfach. Für Schwerbehinderte ist es eine echte Herausforderung. Umso mehr weiß Tim Jäger es zu schätzen, dass er vor nunmehr 18 Jahren bei der Bezirksverwaltung Mainz der VBG seine Ausbildung zum Sozialversicherungsfachangestellten antreten konnte. Trotz seiner hochgradigen Sehbehinderung – oder gerade deshalb? „Die Stelle war damals als Inklusionsarbeitsplatz ausgeschrieben, und es hat einfach gut gepasst“, so der 38-Jährige, der nach seiner Ausbildung 2005 zwischenzeitlich bei der VBG in Ludwigsburg tätig war, bevor er 2012 wieder in die Mainzer Bezirksverwaltung zurückkehrte. „Ich bin auf keine Hürden gestoßen, bin genauso gefördert worden wie andere auch“, erinnert sich Tim Jäger, der nicht nur als Sachbearbeiter Rehabilitation bei der VBG tätig ist, sondern sich ehrenamtlich auch als Mitglied des Personalrates sowie als örtlicher Schwerbehindertenvertreter engagiert.
Die Quote übererfüllt
Aktuell sind bei der VBG in Mainz von über 170 Kolleginnen und Kollegen 21 mit größeren körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen beschäftigt. Das sind zwölf Prozent. Dass die VBG hier die gesetzlich vorgegebene Quote von fünf Prozent weit übersteigt, ist einer der Gründe, weshalb sie am 2. Dezember 2019 den „Landespreis für beispielhafte Beschäftigung schwerbehinderter Menschen“ des rheinland-pfälzischen Landesamts für Soziales, Jugend und Versorgung in der Kategorie „Öffentlicher Dienst“ verliehen bekommen hat.
Gemeinsam mit Tim Jäger hat Kay Schumacher die Auszeichnung von Sozialministerin Sabine Bätzing-Lichtenthäler in der Akademie der Wissenschaften entgegengenommen. Der Leiter der Bezirksverwaltung Mainz der VBG war erfreut und überrascht zugleich: „Es ist wie bei einem Preisausschreiben. Man macht mit und rechnet nicht damit, zu gewinnen“, so Schumacher. Eingereicht hatte er die Bewerbung erst auf Anraten eines Zuständigen der Werkstätten des örtlichen evangelischen Diakoniewerkes ZOAR, mit denen die VBG in Mainz eng zusammenarbeitet, um behinderte Menschen gezielt zu fördern. „Ich hätte uns niemals für diesen Preis beworben, da ich finde, dass wir nichts Ungewöhnliches machen. Für die VBG ist es normal, Menschen zurück ins Leben zu helfen, die Einschneidendes wie einen schweren Arbeitsunfall erlebt haben“, erzählt Schumacher, der wie selbstverständlich hinzufügt: „Wenn nicht wir, wer dann?“
„Sie müssen genauso viel leisten“
Normalität als Selbstverständnis – eine Einstellung, die in der Isaac-Fulda-Allee 3 erlebbar ist: Ob im Rollstuhl sitzend, durch Herz-, Krebs- oder psychischen Erkrankungen beeinträchtigt oder wie Tim Jäger mit erheblicher Sehschwäche: Die schwerbehinderten VBG-Mitarbeitenden üben reguläre Berufe in Vollzeit aus, ganz so wie ihre nicht behinderten Kolleginnen und Kollegen. „Das heißt, sie leisten genauso viel“, betont Kay Schumacher, der die Zusammenarbeit mit schwerbehinderten Menschen als Bereicherung für das ganze Unternehmen empfindet. „Viele Arbeitgeber haben Bedenken, behinderte Menschen einzustellen. Sie haben die Sorge, ihnen über das normale Maß hinaus entgegenkommen zu müssen oder sich per Gesetz nur schwer von diesen Mitarbeitenden trennen zu können. Da gibt es viele Schranken im Kopf, und häufig fehlen die positiven Erfahrungen“, vermutet Kay Schumacher und bringt es auf den Punkt: „Wenn die Leute motiviert sind, behindert oder nicht, macht die Zusammenarbeit Spaß!“
Doch wie findet die VBG in Mainz geeignete schwerbehinderte Mitarbeitende? „Immer mehr Menschen mit Behinderungen bewerben sich auf ausgeschriebene Stellen“, weiß Tim Jäger. Darüber hinaus arbeite man gern mit der Agentur für Arbeit oder mit Einrichtungen wie den ZOAR-Werkstätten zusammen und biete so betroffenen Menschen die Möglichkeit, etwa ein Praktikum bei der VBG zu absolvieren. Dass sich daraus ein festes Anstellungsverhältnis entwickeln kann, zeigt das Beispiel eines jungen schwerbehinderten Mannes, der zunächst ein Praktikum im Bereich der Gebäudebetreuung der VBG absolvierte, das in einem neu geschaffenen Inklusionsarbeitsplatz mündete.
Offene Gespräche als Grundlage

Rollstuhlfahrerin Sarah Lena Hachenberg ist ebenfalls schwerbehindert. Sie ist für Besucher und Anrufer die erste Anlaufstelle am Empfang.
Foto: VBG/Nathalie ZimmermannEin Glücksfall für beide Seiten, der nur durch ehrliche, vertrauensvolle Gespräche überhaupt möglich ist. Denn: „Die Einschränkungen, die sich durch die Schwerbehinderungen ergeben können, gehören ganz offen kommuniziert und thematisiert“, sagt der Schwerbehindertenvertreter Tim Jäger. Nur so könne man frühzeitig Unterstützung anbieten. Höhenverstellbare Schreibtische und große 27-Zoll-Monitore für alle Mitarbeitenden seien bei der VBG in Mainz längst Standard. „Individuelle Lösungen wie Telearbeitsstellen, Einzelbüros oder feste Homeoffice-Tage für konzentrierteres Arbeiten sind ebenfalls möglich, man muss nur miteinander sprechen“, so Jäger.
Ohne die Einbeziehung aller Beschäftigten würde es aber nicht gehen, betont Kay Schumacher, denn es gebe durchaus auch eine Herausforderung, die ein Team zu tragen habe, wenn es mit schwerbehinderten Kolleginnen oder Kollegen zusammenarbeite. „Menschen mit psychischen Einschränkungen etwa sind womöglich nicht immer in gleichem Maße belastbar – das Team muss dies abfedern können und wollen. Daher ist diese Auszeichnung vor allem eine Anerkennung für die gesamte Belegschaft.“
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