
Frau Dr. Roscher, was verbirgt sich hinter dem etwas sperrigen Begriff „erweiterte Erreichbarkeit“?
Erweiterte arbeitsbezogene Erreichbarkeit ist definiert als die Erwartung, auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten und Arbeitsorte für Führungskräfte, Kunden und Kundinnen sowie Kollegen und Kolleginnen erreichbar zu sein und für Arbeitsaufträge zur Verfügung zu stehen.
Sie sind Erreichbarkeits-Expertin und haben eine spannende Studie zu diesem Thema durchgeführt. Wie handhaben Sie das privat? Nehmen Sie Ihr Diensthandy mit nach Hause?
Nein, wenn ich in den Feierabend gehe, lasse ich mein Diensthandy am Arbeitsplatz. Ich gehöre auch zu denen, die ihre beruflichen E-Mails nicht auf ihr privates Handy umleiten. Nur auf Dienstreisen nehme ich mein Diensthandy mit.
Das klingt nach klaren Regeln. Laut Ihrer Studie hadern aber viele Führungskräfte und Beschäftigte mit einer klaren Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Warum?
Das liegt daran, dass Erreichbarkeit meist nicht proaktiv gestaltet wird. Etwa bei Smartphones und Laptops. So können sich unausgesprochene Regeln und Erwartungen bilden. Dies zeigen auch die Ergebnisse unserer Studie: Erreichbarkeit wurde bei den teilnehmenden Betrieben fast nie bei der Einführung geregelt. Und: Die wahrgenommene Erreichbarkeitserwartung bei den Beschäftigten war viel höher als die tatsächliche Erwartung der Führungskräfte. Das spricht dafür, die Ausgestaltung von Erreichbarkeit im Unternehmen nicht einfach dem Zufall zu überlassen, sondern genau hinzuschauen und Erreichbarkeit im Sinne der Gesundheit der Beschäftigten umzusetzen.
Die wahrgenommene Erreichbarkeitserwartung bei den Beschäftigten war viel höher als die tatsächliche Erwartung der Führungskräfte.
Warum ist es überhaupt wichtig, den Umgang mit Erreichbarkeit zu klären?
Studien haben gezeigt, dass sich erweiterte Erreichbarkeit häufig negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirken kann. Erklären lässt sich dies durch entstehende Mehrarbeit, reduzierte Erholungszeiten und eine geringere Abgrenzung zwischen Arbeit und Privatleben.
Allerdings: Die Wirkung von Erreichbarkeit unterscheidet sich zwischen verschiedenen Unternehmen und Abteilungen erheblich. Es konnte nachgewiesen werden, dass sich die aktive Gestaltung der Erreichbarkeit positiv auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirkt.
Wie verhindern Unternehmen, dass Erreichbarkeit die Gesundheit der Beschäftigten belastet?
Indem sie bestimmte Merkmale der Erreichbarkeit im Blick behalten und diese aktiv gestalten. Zum Beispiel die Steuerbarkeit. Wenn die Beschäftigten Einfluss darauf haben oder zumindest vorhersehen können, ob, wann und in welcher Angelegenheit ein Kontakt stattfindet, verringert sich die Gesundheitsbelastung. Ist die Erreichbarkeit mit persönlichen Vorteilen wie einer flexibleren und familienschonenderen Einteilung der Arbeit verbunden? Wird die erwartete Erreichbarkeit im Privatleben als legitim und notwendig eingeschätzt? Ermöglicht die technische Ausstattung einen reibungslosen und störungsfreien Austausch, oder führt sie zu zusätzlichem Stress?
Der Führungskraft und ihrem Verhalten kommt in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Bedeutung zu. Etwa, ob die Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Beschäftigten zu effektiven Ergebnissen führt und die Unternehmens- oder Abteilungsleitung bezüglich der eigenen Balance zwischen Arbeit und Erholung ein Vorbild ist.
Gibt es ein Grundrezept für den Umgang mit Erreichbarkeit?
Im Zuge der Studie, die wir mit acht Betrieben über zwei Jahre lang durchgeführt haben, hat ein Teilnehmer aus tiefstem Herzen gesagt: „Wie gut, dass wir einmal darüber gesprochen haben.“ Genau darum geht es: Reden hilft. Absprachen und Erwartungsklärungen sind notwendig. Etwa darüber, wann eine konkrete Antwort auf eine Mail wirklich erwartet wird und wann die Führungskraft das Thema nur eben abhaken möchte und gar nicht davon ausgeht, dass jemand sich noch am Feierabend darum kümmert.
Jeder Betrieb muss seine eigene Lösung finden, um die Erreichbarkeit für die Mitarbeitenden gesund und für die Arbeitsabläufe effizient zu gestalten.
Was sollte also ein Unternehmen konkret tun, dessen Beschäftigte von Erreichbarkeit betroffen sind?
Pauschale Maßnahmen gibt es nicht. Um negativen Auswirkungen vorzubeugen, sollte geprüft werden, ob und wann erweiterte Erreichbarkeit überhaupt notwendig ist. Wenn Erreichbarkeit einen Nutzen für das Unternehmen und Vorteile für die Beschäftigten verspricht, sollte diese aktiv gestaltet werden. Jeder Betrieb muss seine eigene Lösung finden, um die Erreichbarkeit für die Mitarbeitenden gesund und für die Arbeitsabläufe effizient zu gestalten. Hierbei ist es wichtig, die Beschäftigten miteinzubeziehen. Und man kann sich helfen lassen: Die VBG berät im Rahmen der Betriebsbetreuung zu erweiterter Erreichbarkeit und bietet die Moderation von Gestaltungsworkshops für ihre Mitgliedsunternehmen an.
Wie kann Erreichbarkeit sicher und gesund gestaltet werden? Umfangreiche Informationen finden Sie hier: www.certo-portal.de/mitdenken4null/erreichbarkeit
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