
Auf den ersten Blick würde man nicht vermuten, dass Nicole Liebig bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) arbeitet. Die 40 Jahre alte Berlinerin wirkt eher wie ein Make-up-Artist oder Model: Tattoos, Piercings und kunstvoll frisierte Haare assoziiert nicht jeder mit den öffentlichen Verkehrsbetrieben. Doch die BVG-Dienstkleidung und der gezielte Gang zum Ende des U-Bahnsteigs in Richtung Aufenthaltsraum lassen keinen Zweifel aufkommen: Nicole Liebig ist U-Bahn-Fahrerin.
„Eigentlich bin ich durch Zufall hier gelandet“, erzählt sie. Als Model habe sie tatsächlich eine Zeitlang gearbeitet, außerdem in der Gastronomie. Irgendwann sei sie auf einen Flyer gestoßen: „Die BVG sucht Frauen.“ Aufgrund ihrer spontanen Art wurde Nicole Liebig sofort neugierig. 2016 begann sie als Quereinsteigerin die interne Ausbildung zur Zugfahrerin. Seitdem sind die Berliner U-Bahn-Tunnel ihr Revier.
Wenn die U-Bahn-Fahrerin eine Kollegin oder einen Kollegen beim Schichtwechsel ablöst, tauschen sie sich kurz über besondere Vorkommnisse und den Zustand der Wagen aus. Danach geht es los: Die kleine Fahrerkabine ist nun für die nächsten knapp acht Stunden Liebigs Welt. Dunkel ist es hier, je nach Jahreszeit heiß und stickig oder eher kühl. Die einzige Gesellschaft sind die Gespräche mit der Leitstelle über Funk und das Klackern und Rattern der Schienen und der Hebel, die sie bedient.
Kontakt zur Außenwelt
Gerade dieses Alleinsein in der dunklen Fahrerkabine sei eine der großen Herausforderungen des Jobs – man müsse von der Persönlichkeit her gut in der Lage sein, dieses Gefühl auszuhalten, erzählt Nicole Liebig. Zwar habe sie ständig Funkkontakt zur Leitzentrale, aber ein direkter Kontakt und Small Talk während der Fahrt sind unmöglich. Meistens sei das in Ordnung, da sie gut allein sein könne, aber an manchen Tagen mache ihr die Einsamkeit zu schaffen. Es bleibt dann nur die Pause, ungefähr alle vier Stunden, um Kollegen im Pausenraum zu treffen oder per Handy in den Austausch mit Freunden oder dem Partner zu gehen.
Die Einhaltung von festen Ruhezeiten ist ein Muss, um den Schichtdienst auf lange Sicht gesund ausüben zu können.
„Das Handy ist meine wichtigste Schnittstelle zur Außenwelt“, sagt die U-Bahn-Fahrerin. Ohne es sei es kaum möglich, guten Kontakt zu Familienangehörigen und Freunden aufrechtzuerhalten, denn persönliche Treffen in der Freizeit sind wegen der wechselnden Arbeitszeiten durch das Schichtsystem schwer zu realisieren. Einige Zusammenkünfte sind schon ein halbes Jahr her.
Ausruhen neu lernen
Am Anfang fuhr Liebig nur in Spät- und Nachtschicht, da sie sich an diesen Lebensrhythmus in ihren Berufsjahren in der Gastronomie gut angepasst hatte. Doch seit 2018 ist die Berlinerin in allen drei Schichten der BVG unterwegs: früh (im Zeitraum zwischen 4 und 14 Uhr), spät (zwischen 12 und 22 Uhr) und nachts (zwischen 20 und 6 Uhr). Die Umgewöhnung sei nicht leicht. „Ich kann tagsüber einfach nicht schlafen. Darum führe ich meinen Alltag möglichst normal weiter, und wenn gar nichts mehr geht, so nach drei bis vier Tagen, lege ich einen kompletten Schlaftag ein“, berichtet Liebig. Zum Glück sei ihr Partner ebenfalls oft spätabends berufstätig und somit verständnisvoll für die Situation. „Er unterstützt mich und versucht, mir diese Umgewöhnung zu erleichtern.“ Zurzeit übt sich Liebig darin, bestimmte Ruhezeiten einzuhalten, und erlernt dazu Entspannungstechniken. „Ich weiß, dass ich mich mit dieser Thematik ernsthaft auseinandersetzen muss, um meinen Beruf auf lange Sicht gesund ausüben zu können“, sagt sie.
Die Betriebsärztin hilft
Die BVG unterstützt ihre Beschäftigten von Anfang an im Umgang mit den Herausforderungen des Schichtdienstes. „Schon in der Einstellungsuntersuchung prüfen wir ganz bewusst, ob unsere Bewerberinnen und Bewerber die geeignete körperliche und mentale Verfassung mitbringen, um den Belastungen dieser speziellen Arbeitsform gerecht zu werden“, erläutert Dr. Manuela Huetten, die leitende Betriebsärztin. Ein besonderes Anliegen der Ärztin ist es, den Arbeitnehmern ein Bewusstsein für die gesundheitlichen Belastungen des Schichtdienstes zu vermitteln und ihnen zugleich Mittel zur aktiven Mitgestaltung ihres Arbeitsmodells an die Hand zu geben. „Wir bieten Hilfestellung von Beginn der Einstellung an und begleiten im ganzen Arbeitsprozess“, so Huetten. Neben Seminaren und individuellen Einzelterminen zum Erlernen bestimmter Tools zum Zeitmanagement bringt die BVG neuen Mitarbeitern die Thematik der Schichtarbeit in Basisseminaren grundsätzlich nahe.
„Es ist nachgewiesen, dass Schichtarbeit mit besonderen gesundheitlichen Belastungen einhergeht, jeder Einzelne ist jedoch in der Lage und letztlich auch in der Pflicht, sich aktiv mit einzubringen und bewusst etwas für die eigene Gesunderhaltung zu tun“, argumentiert Dr. Manuela Huetten. Die Ärztin legt den Beschäftigten die Einhaltung von Maßnahmen für einen ruhigen Schlaf, gesunde Ernährung und ausreichende Erholung nahe. Zudem empfiehlt sie, Freizeitstress zu vermeiden. Wenn alle diese Faktoren im Einklang stehen, kann eine gesunde Lebensweise auch im Schichtsystem gelingen. „Die Beschäftigten sind den Belastungen der Schichtarbeit nicht hilflos ausgeliefert. Sie können den Prozess aktiv mitgestalten, um die Situation erträglicher zu machen“, fasst die Betriebsärztin zusammen.
Die Beschäftigten sind den Belastungen der Schichtarbeit nicht hilflos ausgeliefert. Sie können den Prozess aktiv mitgestalten, um diese Situation erträglicher zu machen.
Tageslicht genießen
U-Bahn-Fahrerin Nicole Liebig hat ihre individuelle Lösung gefunden, um sich mit den gesundheitlichen und psychosozialen Belastungen des Schichtdienstes zu arrangieren. Sie heißt: Teilzeit. Das bedeutet in ihrem Fall, dass sie zwar eine ganze Schicht von acht Stunden am Stück fährt, dies aber lediglich an vier aufeinanderfolgenden Tagen, denen dann zwei komplett freie Tage folgen. So kann sie die aus den Arbeitszeiten resultierenden Belastungen etwas minimieren – an diesen freien Tagen versucht sie, einen normalen Tagesrhythmus zu leben und Hobbys nachzugehen, die einen Gegenpol zu ihrer Arbeit bilden. Außerdem fährt sie ausschließlich auf den U-Bahn-Linien 1 bis 4, im sogenannten Kleinprofil. Das bedeutet, dass sie auf Linien unterwegs ist, die alle zumindest einen Teil oberirdisch fahren. So kann sie abschnittsweise das für einen gesunden Schlaf-Wach-Rhythmus so wichtige Tageslicht genießen. „Während meiner Schnuppertage bin ich auch das Großprofil gefahren. Da kommt man nie ans Licht. Das könnte ich nicht!“ Darum ist sie froh, dass sie diese Zuteilung bekommen hat – ein absoluter Pluspunkt ihrer Arbeit, wie Liebig betont. „Ich sehe Berlin jeden Tag aufs Neue in seiner Einzigartigkeit: bei Tag und Nacht, bei Regen und Sonne, im Wechsel der Jahreszeiten.“ Das sei unglaublich schön und inspirierend und entschädige für die anderen Zeiten im Dunkeln, unter der Erde.
MEHR INFORMATIONEN: www.vbg.de/schichtarbeit
Struktur zur Erholung
Arbeitgeber können Belastungen des Schichtdienstes durch verschiedene Maßnahmen reduzieren. Zum Beispiel sollten sie ungünstige Schichtfolgen – etwa mehr als drei Nachtschichten in Folge – vermeiden. Am besten rotieren Früh- und Spätschichten in schneller Folge in Richtung vorwärts. Zur Erholung müssen zwischen zwei Schichten ausreichende Ruhezeiten liegen. Mehrere freie Tage am Stück sind besser als einzelne Ruhetage. Auch die Beschäftigten selbst haben Möglichkeiten, ihre Gesundheit bei Schichtarbeit positiv zu beeinflussen. Dazu gehören ausreichender Schlaf und die Einrichtung festgelegter Schlafzeiten inklusive entsprechender Rituale sowie eine ausgewogene Ernährung, die auf die Bedürfnisse zu den unterschiedlichen Tageszeiten während der Arbeitsschicht eingeht. Best-Practice-Tipps als Videobeispiele zeigt das Gesundheitsmagazin der VBG.
VBG-Gesundheitsmagazin: Best-Practice-Tipps zur Schichtarbeit
Folge 1: Fakten und Herausforderungen
Folge 2: Schichtarbeit bei Pilkington
Folge 3: Ein guter Schichtplan
Folge 4: Leben mit der Schichtarbeit
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