
Herr Lazay, der Anteil von Zeitarbeit an der Gesamtbeschäftigung betrug im ersten Halbjahr 2020 2,1 Prozent. Wie ist dieser Anteil einzuordnen hinsichtlich der Bedeutung dieser Branche für den Arbeitsmarkt?
Unser Anteil an der Gesamtbeschäftigung ist sehr gering, und trotzdem sind wir wichtig für den Arbeitsmarkt. Die Bedeutung der Zeitarbeit liegt nicht in ihrer Größe, sondern in ihrer Funktion. Knapp 27 Prozent der Zeitarbeitskräfte gehören zu den sogenannten Geringqualifizierten, also Menschen ohne formalen Berufsabschluss. 64 Prozent der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer kommen aus der Arbeitslosigkeit. Und in der Gruppe der Geflüchteten steht die Zeitarbeit für rund 33 Prozent aller Beschäftigungsaufnahmen. Ich finde das schon recht eindrucksvoll. Für die deutsche Wirtschaft bieten wir darüber hinaus die dringend erforderliche Flexibilität im Personalwesen, also beispielsweise bei Urlaubs- und Krankheitsvertretungen, bei Auftragsspitzen oder bei volatiler wirtschaftlicher Lage, so wie sie aktuell der Fall ist. Gerade im hochqualifizierten Bereich bieten wir übrigens sehr gute Bedingungen für Berufsanfängerinnen und Berufsanfänger. Die können sich bei uns erproben und so dann eben den für sie dauerhaft passenden Arbeitgebenden finden.
Die Bedeutung der Zeitarbeit liegt nicht in ihrer Größe, sondern in ihrer Funktion.
Die Zeitarbeitsbranche wird häufig als Konjunkturbarometer bezeichnet. Könnten Sie kurz erklären, warum Zeitarbeit ein Indikator für das Wirtschaftsklima sein kann?
Ein Abflauen der Konjunktur spüren wir sofort durch weniger Nachfrage nach Arbeitskräften. In Wirtschaftskrisen werden oft Zeitarbeitskräfte abgemeldet, um etwa Entlassungen von Stammbeschäftigten zu verhindern. Wenn die Wirtschaft aber wieder anzieht, erleben wir die verstärkte Nachfrage nach Zeitarbeitskräften früh und deutlich – schon bevor unsere Kundschaft selbst wieder Einstellungen vornimmt. Und das ist relativ leicht zu erklären: Besonders unbefristete Arbeitsplätze werden normalerweise erst dann geschaffen, wenn Arbeitgebende sicher sind, die Position auch wirklich dauerhaft zu benötigen.

Der Präsident des Bundesarbeitgeberverbands der Personaldienstleister (BAP), Sebastian Lazay, sieht gute Chancen für die Zeitarbeit als Player auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt – nicht zuletzt aufgrund der Digitalisierung, die neues Potenzial hebt.
Foto: Steffen JänickeFür welche Unternehmen ist das Modell der Arbeitnehmerüberlassung überhaupt geeignet?
Prinzipiell sind wir für alle da, und mehr noch: nicht nur für Unternehmen, sondern eben auch für andere Institutionen wie Behörden oder auch karitative Einrichtungen. Im Prinzip sogar für Privathaushalte – eben für alle Arten von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern, die Stellen für einen gewissen begrenzten Zeitraum besetzen wollen, oder auch für jene, die Stellen dauerhaft besetzen möchten. Nicht selten schließen wir auch sogenannte „Skill Gaps“, wenn ein Unternehmen über einen längeren Zeitraum hinweg keine Spezialistinnen oder Spezialisten findet. Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit zur Berufstätigkeit von Zeitarbeitskräften zeigt übrigens: Von A wie Architekt/Architektin über M wie Mechatroniker/Mechatronikerin bis Z wie Zerspannungsmechaniker/Zerspannungsmechanikerin sind da alle Berufe vertreten.
Die Zahl der Arbeitsunfälle pro 1.000 Versicherte ist von 2008 bis 2017 um mehr als 36 Prozent zurückgegangen. Ein Zeichen dafür, dass Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in der Zeitarbeit an Bedeutung zunehmen?
In der Zeitarbeitsbranche eindeutig ja. Immer mehr Personaldienstleistungsunternehmen wissen, dass ihre Beschäftigten ihr wichtigstes Kapital darstellen, und handeln auch entsprechend. Inzwischen verfügen wir ja über jahrzehntelange Erfahrung und entsprechende Expertise in der Prävention. Die gute Kooperation mit der VBG hat hier sicherlich einen wichtigen Teil beigetragen. Weitere Gründe für rückläufige Zahlen sind aber auch der Anstieg der Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich und die immer weitergehende Professionalisierung der Branche. Denken Sie nur einmal an den Ausbildungsberuf der Personaldienstleistungskaufleute. Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz sind hier von Anfang an ein integraler Bestandteil der Ausbildung.
Sind Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz heute ein Unterscheidungsmerkmal für gute Personaldienstleistungsunternehmen?
Ich würde sogar sagen, das waren sie schon immer. Aus meiner Sicht geht es aber vielmehr darum, die hohen Standards der in dieser Hinsicht ja besonders engagierten Unternehmen auch als solche anzuerkennen. Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich ein Kunde oder eine Kundin im Vorfeld des Einsatzes mit dem Zeitarbeitsunternehmen über die arbeitsmedizinische Vorsorge abstimmt. Kolleginnen und Kollegen werden aber sicher die Erfahrung mit mir teilen, dass nicht alle Kundenunternehmen hier das nötige Interesse zeigen. Etwa dann, wenn der Einkauf und nicht die Personalabteilung die Entscheidungen fällt. Aus meiner eigenen Erfahrung tragen wir als engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer dazu bei, das Bewusstsein für den Arbeits- und Gesundheitsschutz in unseren Kundenbetrieben spürbar zu verbessern.
Aus meiner eigenen Erfahrung tragen wir als engagierte Unternehmerinnen und Unternehmer dazu bei, das Bewusstsein für den Arbeits- und Gesundheitsschutz in unseren Kundenbetrieben spürbar zu verbessern.
Welchen Einfluss hat die Zusammenarbeit der Branchenverbände mit der VBG auf Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz in den Zeitarbeitsunternehmen?
Viele Personaldienstleisterinnen und -dienstleister haben sich zum Dialog und zu einer Kooperation mit der VBG entschlossen, das freut mich persönlich sehr. Übrigens erfolgt eine solche Kooperation oft durchaus kritisch, aber eben im Dialog und nicht nur konfrontativ. Das sehen wir nicht nur ganz aktuell an der Diskussion um strukturelle Beitragsfragen, sondern auch daran, dass seit vielen Jahren sehr viele Kolleginnen und Kollegen auch in den Gremien der VBG aktiv mitwirken.
Die gegenwärtige Coronavirus-Pandemie rückt sicheres und gesundes Arbeiten mehr denn je in den Fokus. Welche Schlüsse zieht die Zeitarbeitsbranche aus der Pandemie?
Die wichtigste Botschaft erscheint mir aktuell, dass das Infektionsgeschehen in der Zeitarbeit nicht höher ist als in anderen Branchen. Darüber hinaus möchte ich aber gerne auf die Initiative unseres Weltverbands, der World Employment Confederation (WEC), und der europäischen Organisation WEC Europe hinweisen, die Leitfäden entwickelt und Best-Practice-Beispiele für sicheres Arbeiten in der Krise und nach der Coronavirus-Pandemie gesammelt haben. Die Ergebnisse werden kostenlos allen Unternehmen zur Verfügung gestellt. Zu beklagen ist, dass die Politik die Zeitarbeit in der Pflege nicht auf dem Schirm hatte. Wir mussten hier mühsam aufklären, dass auch Zeitarbeitskräfte je nach Tätigkeitsgebiet in entsprechende Prioritätengruppen für die Coronavirus-Impfung gehören. Es war zuletzt erstaunlich und manchmal auch deprimierend, mit welcher Praxisferne politische Entscheidungen getroffen wurden. Eine Test-Strategie, wie sie kürzlich diskutiert wurde, habe ich in meinem eigenen Unternehmen längst umgesetzt. Der Schluss für die Zeitarbeitsbranche nach alldem muss daher lauten, im öffentlichen Raum noch mehr zu betonen, wie viel die Branche bereits für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz tut und dass man sie dabei unterstützen und nicht behindern sollte.
Laut Umfrage des Interessenverbands Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) bei seinen Mitgliedsunternehmen beklagen 72,6 Prozent der befragten Unternehmen einen pandemiebedingten Auftragsrückgang. Knapp 25 Prozent der Befragten gaben gar an, die Auswirkungen der andauernden Krise würden das Bestehen ihres Unternehmens bedrohen. Wie krisenfest ist die Zeitarbeitsbranche?
Die Daten des BAP lassen die Lage nicht ganz so dramatisch aussehen. Was immer hilft, ist ein Blick in die amtlichen Statistiken, also in die Daten des Statistischen Bundesamtes. Demnach beträgt der Umsatzrückgang in der Arbeitnehmerüberlassung im Jahr 2020 knapp 18 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das ist natürlich ein immenser Einbruch für die Branche. Und kritisch ist das insbesondere für Zeitarbeitsunternehmen mit Fokus auf Kundinnen und Kunden, die vom Lockdown direkt oder indirekt betroffen sind. Doch insgesamt ist unsere Branche sehr krisenfest. Das hat schon die Weltfinanzkrise 2008/2009 gezeigt. Innerhalb von zwei Jahren hat sich die Anzahl der Beschäftigten in unserer Branche danach wieder um 41 Prozent erhöht. Wenn sich das aktuell wiederholen soll, ist die Voraussetzung allerdings, dass die Impfkampagne endlich in Gang kommt und keine weiteren Lockdowns mehr folgen. Vor allem kein Lockdown im verarbeitenden Gewerbe, denn das ist der wichtigste Einsatzbereich für Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer.
Die Coronavirus-Pandemie führt aktuell zu vielen Ideen und Umbrüchen in der Arbeitswelt. Vor allem eine örtliche und zeitliche Flexibilität wird gefordert. Welche Chancen sehen Sie hier für die Zeitarbeit als Player auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt?
Der flexible Personaleinsatz ist die Kernkompetenz der Zeitarbeit. Ich sehe drei wesentliche Funktionen der Zeitarbeitsbranche in der Arbeitswelt von morgen: Erstens hat sie eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung einer erweiterten Personalstrategie, wie ich sie nenne – also einem Mix aus Stammbelegschaft und externen Projektmitarbeiterinnen und Projektmitarbeitern, Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmern und anderen. Zweitens werden wir weiterhin unsere bewährte Rolle als tarif- und arbeitsrechtlich abgesicherte Alternative ausspielen können, zum Beispiel für Digital Natives, die ständig neue Herausforderungen suchen, sich aber eben nicht dauerhaft an ein bestimmtes Unternehmen binden sollen. Wir sind bevorzugter Ansprechpartner für all die Menschen, die aus welchen Gründen auch immer eine Alternative suchen zwischen traditioneller Festanstellung mit Tarifverträgen einerseits und Freiberuflichkeit beziehungsweise Selbstständigkeit andererseits, aber auch für Menschen, die einfach besondere Flexibilitätsansprüche haben. Eine dritte Funktion, das ist vielleicht ein eher visionärer Punkt, ist die Rolle als Personalentwickler für andere Unternehmen. Hier steckt noch so viel ungenutztes Know-how in unserer Branche, das es noch zu heben gilt.
Was unternimmt der Zeitarbeitssektor, um für Dienstleistungsunternehmen, Hightech-Unternehmen zum Beispiel aus dem IT-Bereich oder sich entwickelnde Start-ups attraktiv zu sein?
Inzwischen ist es keine Neuigkeit mehr, dass sich längst für einzelne Branchen oder Kundensegmente spezialisierte Anbieter in der Zeitarbeitsbranche aufgestellt haben. Die Knappheit von Fachkräften führt zu einer vermehrten Konkurrenz um Fachkräfte zwischen Personaldienstleisterinnen und -dienstleistern und ihren Kundinnen und Kunden, was für die Beschäftigten übrigens sehr positiv ist. Für die Personaldienstleisterinnen und -dienstleister bedeutet das, dass sie in erster Linie für Fachkräfte attraktiv sein müssen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen tun dafür sehr viel. Da gibt‘s ganz viele Methoden, auch im Bereich Social Media und dem E-Recruiting, um Beispiele zu nennen. Es geht dann unter anderem darum, welche Keywords wie performen, um Menschen optimal anzusprechen. Das Know-how darüber wird darüber entscheiden, wer im Wettbewerb die Nase vorn haben wird.
In der Zeitarbeit geht es darum, für personelle Herausforderungen der Kundinnen und Kunden passende Lösungen zu finden. Wie kann bei dieser Aufgabe die Digitalisierung helfen, und wie wird sich dadurch womöglich die Branche verändern?
Die Digitalisierung ist auch in unserer Branche allgegenwärtig. Social-Media-Kanäle und Online-Jobbörsen sind inzwischen entscheidend bei der Suche nach geeigneten Kandidatinnen und Kandidaten. Durch den verstärkten Einsatz von E-Recruiting generieren Personaldienstleisterinnen und -dienstleister mittlerweile Wertschöpfungsvorteile gegenüber den Personalabteilungen unserer Kundenunternehmen. Expertinnen und Experten sind eben meist effizienter. Ein anderes Beispiel ist die Kandidatenvorauswahl: Mit „Automatic Pre-Matching“ setzen wir Software ein, die Datenbanken nach passenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern untersucht. Derartige Suchanfragen dauern im Schnitt weniger als 0,1 Sekunden, sodass inzwischen eingehende Kundenanfragen schnell bearbeitet werden können. Vor dem Führen von Bewerbungsgesprächen erfolgt der erste Kontakt immer häufiger über sogenannte „Chatbots“, insbesondere bei großen Zeitarbeitsunternehmen. Das verringert Routinearbeiten, und die Personalerin und der Personaler können sich stattdessen komplexeren Aufgaben widmen. Wir beim BAP beobachten die Entwicklung der Plattformökonomie sehr genau. Mein persönlicher Eindruck ist aber: Gerade in der Personalarbeit bleibt der menschliche Faktor sicherlich unerlässlich.
Branchenreport Zeitarbeit
Zeitarbeit ist eine der größten Branchen der VBG. Der VBG-Branchenreport mit Statistiken zum Unfallgeschehen bietet einen einmaligen Einblick. Die wesentlichen Ergebnisse sind hier zusammengefasst.
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