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Foto: VBG/Jörn Pollex

Arbeiten ohne PräsenzpflichtHirsche auf weiten Fluren

Im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie hat eine der führenden Kreativagenturen Deutschlands die ständige Anwesenheitspflicht abgeschafft – auch für die Zeit nach der Pandemie. Certo hat sich Anfang Oktober 2020 im Hamburger Büro der Agentur „Zum goldenen Hirschen“ umgeschaut.

Auf den ersten Blick ist die Revolution nicht gleich zu erkennen. Am Empfang grüßt eine freundliche Office-Managerin, natürlich mit Mund-Nasen-Schutz. Auf dem Weg zum Konferenz­raum halten zwei Herren – mit Abstand – einen Plausch an der Kaffee­maschine. An einer Wand hängen Hunderte bunter Klebe­zettel. Hier wurde fleißig gebrain­stormt, wie es sich unter Kreativen gehört. Theresa Hilbk und Jens Portmann sind nicht allein im Büro, wider Erwarten. Viele Unternehmen haben sich damit beschäftigt, Rückhol­strategien zu entwickeln, nachdem sie im März 2020 auf „Remote-Modus“ umgestellt und alle Beschäftigten nach Hause geschickt hatten. Die „Hirsche“ haben einen anderen Weg gewählt. Bereits Mitte Juli wurden alle 350 Angestellten darüber informiert, dass sie gern und unter Einhaltung der festgelegten Maximalzahl für die Anwesenden an den jeweiligen Stand­orten zurück­kommen dürften – aber nicht müssen. Das Hamburger Büro ging dabei sehr weit: Die Präsenz­pflicht wurde komplett abgeschafft. Um alle auf einen Stand zu bringen, haben die Geschäfts­führungen aller sieben Hirschen-Stand­orte unter dem Titel „Work New“ ein gemeinsames Manifest erstellt, das die künftige Art der Zusammen­arbeit in zehn Leit­sätzen skizziert. Theresa Hilbk, Director People and Organization, und Jens Portmann, Geschäfts­führer des Hamburger Stand­ortes, haben beide daran mitgewirkt. Sie haben mit Certo darüber diskutiert, warum dieser Weg für ihr Unternehmen der richtige ist.

Work New: Das „Manifest“ definiert das Arbeiten bei der Agentur in zehn plakativen Leitsätzen.
Work New: Das „Manifest“ definiert das Arbeiten bei der Agentur in zehn plakativen Leitsätzen. Foto: Zum goldenen Hirschen GmbH

Wie den meisten Unternehmen ging es Ihnen bei der Entscheidung, Ihre Beschäftigten nicht ins Büro zu beordern, zunächst vor allem um Krisen­bewältigung. Warum haben Sie sich dazu entschieden, die Präsenz­pflicht komplett abzuschaffen?
Portmann:
Schon vor der Coronavirus-Pandemie hatten viele Kolleginnen und Kollegen den Wunsch, zumindest gelegentlich Mobile Work zu machen. Und schon vor dem Lockdown verfügten alle Team­mit­glieder über Laptops, auch die Art-Direktoren, die aufgrund der Daten­mengen wirklich leistungs­fähige Computer benötigen.

Hilbk: Mitte März haben wir eine monatliche Mitarbeiter­befragung implementiert, der zum Teil eine organisations­psychologische Systematik hinter­liegt. Mithilfe offener Fragen können wir zusätzliche Themen abfragen, die die Beschäftigten oder uns umtreiben. Die Ergebnisse der Befragung und das Feedback unserer Mitarbeitenden haben uns letztendlich darin bestärkt, nicht zur alten Arbeits­weise zurück­zu­kehren. So ist das Manifest auch aus den Ergebnissen dieser Befragung entstanden.

Wird das Manifest an allen Standorten gleich ausgelegt?
Hilbk:
Unsere Standorte stehen vor teilweise sehr unterschiedlichen Heraus­forderungen und müssen daher auch ihre ganz eigenen Regeln finden. Am kleinsten Standort ist die Situation mit 25 Mitarbeitenden ganz anders als an unserem größten Standort in Köln mit 170 Menschen. In Berlin und München beispiels­weise gibt es feste Team-Tage.

Portmann: „Zum goldenen Hirschen“ startete 1995 in Hamburg. Unser Standort ist auch, was den Stand zur mobilen Arbeit angeht, sicherlich besonders fort­schrittlich. Dadurch, dass der Ort, also das Büro, nicht mehr so eine große Rolle spielt, ist die Zusammen­arbeit der einzelnen Standorte aller­dings extrem gewachsen. Das stand­ort­über­greifende Arbeiten ist einfacher geworden, und so können wir andere Hirschen-Agenturen bei vorhandenen Kapazitäten unterstützen, zum Beispiel unsere Berliner Kolleginnen und Kollegen. Hier haben wir an der Kampagne für die Corona­virus-Warn-App mitgearbeitet.

Wann ist Präsenz in Ihren Augen dann überhaupt noch erforderlich?
Portmann:
Es gibt spezielle Aufgaben­bereiche und Projekte wie zum Beispiel die Begleitung von Filmdrehs. Die können natürlich nicht aus der Entfernung erledigt werden. In vielen Situationen funktionieren auch Hybridmodelle: Wir hatten unlängst einen Neu­kunden­termin, bei dem der Kunde explizit um ein persönliches Treffen gebeten hatte. Eine Kollegin und ich waren vor Ort. Zwei Kollegen haben wir einfach über einen Laptop, der auf dem Konferenz­tisch stand, zugeschaltet.

Und die Kreativität leidet wirklich gar nicht darunter?
Portmann: Nein! Es gibt wirklich gute Software­lösungen, mit denen sich Brain­storming-Methoden ins Digitale über­tragen lassen. Diese neuen Tools machen Spaß, und so entsteht eine neue Kreativität. Selbst während des Lockdowns haben wir unsere Kundinnen und Kunden stabilisiert, teil­weise sogar ausgebaut und neue Kundinnen und Kunden hinzu­gewonnen.

Mehr Informationen rund um das Thema Homeoffice finden Sie hier:

www.vbg.de/homeoffice

Wie reagieren Ihre Beschäftigten auf die neue Freiheit?
Portmann:
Viele Beschäftigte äußerten den Wunsch, möglichst schnell wieder ins Büro zurück­zu­kehren. Dann haben wir die Türen geöffnet, und kaum jemand kam. Das war sehr spannend für uns. Menschen, die außer­halb wohnen, freuen sich darüber, dass sie morgens noch eine Runde um den See laufen können und nicht im Stau mit allen anderen Pendlerinnen und Pendlern in die City fahren müssen. Wie Sie sehen, sind die Büros alles andere als verwaist. Die Menschen spüren, dass es ihnen guttut, wieder unter Menschen zu kommen, und dass das Büro nicht nur eine Arbeits­stätte, sondern auch eine Begegnungs­stätte ist.

Den "Hirschen" im Büro dient der Wald als Inspiration: Theresa Hilbk vor einem Wandbild.

Foto: VBG/Jörn Pollex

Wie läuft es denn für diejenigen, die ins Büro kommen?
Hilbk: Wer momentan kommt, hat sich im Vorfeld einen Platz reserviert und holt sich am Eingang eine Box mit den persönlichen Arbeits­sachen ab. Zum Teil wurde in den Offices auch die feste Sitz­platz­ordnung abgeschafft, und die Büros wurden mithilfe von Architekten umgestaltet. Wir brauchen sowohl Möglichkeiten für stilles als auch für kollaboratives Arbeiten, zum Beispiel um Pitches vor­zu­bereiten.

Je weniger Menschen gleich­zeitig im Büro sind, desto weniger Fläche benötigen sie. Ist je nach Entwicklung dann an manchen Standorten mit einer Auflösung der Büros zu rechnen?
Portmann: Solche Fragen stehen jetzt natürlich im Raum. Das Simpelste wäre ja nun, die Fläche einfach auf die Hälfte zu reduzieren. So wird es bei uns aber nicht zwingend laufen. Wir möchten uns lieber über Modelle wie Unter­vermietung Gedanken machen. Das finden wir spannend, weil wir dann beispiels­weise Unternehmen, mit denen wir in Projekten zusammen­arbeiten, hier rein­nehmen würden, um Synergien zu schaffen.

Hat die Abschaffung der Präsenzpflicht auch Auswirkungen auf Ihr Personal­wesen?
Hilbk: Allerdings! Eine einzelne Vorgesetzte oder ein einzelner Vorgesetzter wird nicht aus der Ferne den Überblick behalten können. Daher muss das Team harmonieren und funktionieren. Es ist somit für uns noch wichtiger als vorher, beim Recruiting die Kolleginnen und Kollegen mit in die Auswahl ein­zu­beziehen. Beim Onboarding haben wir ein Paten­modell entwickelt, bei dem sich Beschäftigte, die schon länger dabei sind, um die Neuzugänge kümmern. Außerdem verfügen wir über eine interne Schulungs­einheit, in der wir uns explizit Themen wie „Führen auf Distanz“ und „Richtig Feedback geben“ annehmen. Führungs­kräfte brauchen nun noch mehr Sensibilität für mentale Themen.

Interview im großen Konferenzraum: Die Recruiterin bleibt auf Abstand. Foto: VBG/Jörn Pollex

Wie haben Sie die neuen Regelungen vertraglich festgehalten?
Hilbk: Aktuell haben unsere Mitarbeitenden in ihren Arbeits­verträgen die Agentur als vorgesehenen Arbeitsort stehen. Wir diskutieren gerade die Möglichkeiten, wie wir das Manifest formal integrieren. Grundsätzlich möchten wir unseren Beschäftigten die Möglichkeit geben, auch künftig mobil zu arbeiten, ihre Arbeits­leistung auch außerhalb der Agentur an einem oder mehreren wechselnden Orten ihrer Wahl zu erbringen. Das funktioniert jedoch selbst­verständlich nicht grenzenlos, sondern nur unter Einhaltung verbindlicher „Spiel­regeln“, die in weiten Teilen sogar gesetzlich vor­geschrieben sind.

Wie halten Sie es persönlich mit der Anwesenheit im Büro?
Hilbk: Ich bin aktuell etwa einmal pro Woche im Kölner Büro. Sporadisch habe ich wieder angefangen, an die Standorte zu reisen, für die ich ja auch die Personal­verantwortung trage – zumindest so weit, wie es das aktuelle Infektions­geschehen zulässt bzw. zugelassen hat. Trotz aller Freiheit, die das mobile Arbeiten mit sich bringt, ist es auch sehr schön, die Kolleginnen und Kollegen mal wieder persönlich zu sehen.

Portmann: Ich habe die ersten Wochen des Lockdowns im Frühjahr zu Hause, aber auch mal ein paar Tage in meiner Ferienwohnung auf Langeoog verbracht. Denn auch dort lässt sich wunderbar produktiv arbeiten. Mittler­weile verbringe ich drei bis vier Tage im Büro, auch wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nach einem Kunden­termin ist es für mich oft einfach praktischer, ins Büro zu kommen. Trotzdem bin ich sicher: Dieses Gespräch hätte genauso gut per Videocall funktioniert. Wenn die Anzahl der Teilnehmenden über­schaubar ist, gibt es für mich so gut wie keinen Unterschied.

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