
Auf den ersten Blick ist die Revolution nicht gleich zu erkennen. Am Empfang grüßt eine freundliche Office-Managerin, natürlich mit Mund-Nasen-Schutz. Auf dem Weg zum Konferenzraum halten zwei Herren – mit Abstand – einen Plausch an der Kaffeemaschine. An einer Wand hängen Hunderte bunter Klebezettel. Hier wurde fleißig gebrainstormt, wie es sich unter Kreativen gehört. Theresa Hilbk und Jens Portmann sind nicht allein im Büro, wider Erwarten. Viele Unternehmen haben sich damit beschäftigt, Rückholstrategien zu entwickeln, nachdem sie im März 2020 auf „Remote-Modus“ umgestellt und alle Beschäftigten nach Hause geschickt hatten. Die „Hirsche“ haben einen anderen Weg gewählt. Bereits Mitte Juli wurden alle 350 Angestellten darüber informiert, dass sie gern und unter Einhaltung der festgelegten Maximalzahl für die Anwesenden an den jeweiligen Standorten zurückkommen dürften – aber nicht müssen. Das Hamburger Büro ging dabei sehr weit: Die Präsenzpflicht wurde komplett abgeschafft. Um alle auf einen Stand zu bringen, haben die Geschäftsführungen aller sieben Hirschen-Standorte unter dem Titel „Work New“ ein gemeinsames Manifest erstellt, das die künftige Art der Zusammenarbeit in zehn Leitsätzen skizziert. Theresa Hilbk, Director People and Organization, und Jens Portmann, Geschäftsführer des Hamburger Standortes, haben beide daran mitgewirkt. Sie haben mit Certo darüber diskutiert, warum dieser Weg für ihr Unternehmen der richtige ist.
Wie den meisten Unternehmen ging es Ihnen bei der Entscheidung, Ihre Beschäftigten nicht ins Büro zu beordern, zunächst vor allem um Krisenbewältigung. Warum haben Sie sich dazu entschieden, die Präsenzpflicht komplett abzuschaffen?
Portmann: Schon vor der Coronavirus-Pandemie hatten viele Kolleginnen und Kollegen den Wunsch, zumindest gelegentlich Mobile Work zu machen. Und schon vor dem Lockdown verfügten alle Teammitglieder über Laptops, auch die Art-Direktoren, die aufgrund der Datenmengen wirklich leistungsfähige Computer benötigen.
Hilbk: Mitte März haben wir eine monatliche Mitarbeiterbefragung implementiert, der zum Teil eine organisationspsychologische Systematik hinterliegt. Mithilfe offener Fragen können wir zusätzliche Themen abfragen, die die Beschäftigten oder uns umtreiben. Die Ergebnisse der Befragung und das Feedback unserer Mitarbeitenden haben uns letztendlich darin bestärkt, nicht zur alten Arbeitsweise zurückzukehren. So ist das Manifest auch aus den Ergebnissen dieser Befragung entstanden.
Wird das Manifest an allen Standorten gleich ausgelegt?
Hilbk: Unsere Standorte stehen vor teilweise sehr unterschiedlichen Herausforderungen und müssen daher auch ihre ganz eigenen Regeln finden. Am kleinsten Standort ist die Situation mit 25 Mitarbeitenden ganz anders als an unserem größten Standort in Köln mit 170 Menschen. In Berlin und München beispielsweise gibt es feste Team-Tage.
Portmann: „Zum goldenen Hirschen“ startete 1995 in Hamburg. Unser Standort ist auch, was den Stand zur mobilen Arbeit angeht, sicherlich besonders fortschrittlich. Dadurch, dass der Ort, also das Büro, nicht mehr so eine große Rolle spielt, ist die Zusammenarbeit der einzelnen Standorte allerdings extrem gewachsen. Das standortübergreifende Arbeiten ist einfacher geworden, und so können wir andere Hirschen-Agenturen bei vorhandenen Kapazitäten unterstützen, zum Beispiel unsere Berliner Kolleginnen und Kollegen. Hier haben wir an der Kampagne für die Coronavirus-Warn-App mitgearbeitet.
Wann ist Präsenz in Ihren Augen dann überhaupt noch erforderlich?
Portmann: Es gibt spezielle Aufgabenbereiche und Projekte wie zum Beispiel die Begleitung von Filmdrehs. Die können natürlich nicht aus der Entfernung erledigt werden. In vielen Situationen funktionieren auch Hybridmodelle: Wir hatten unlängst einen Neukundentermin, bei dem der Kunde explizit um ein persönliches Treffen gebeten hatte. Eine Kollegin und ich waren vor Ort. Zwei Kollegen haben wir einfach über einen Laptop, der auf dem Konferenztisch stand, zugeschaltet.
Und die Kreativität leidet wirklich gar nicht darunter?
Portmann: Nein! Es gibt wirklich gute Softwarelösungen, mit denen sich Brainstorming-Methoden ins Digitale übertragen lassen. Diese neuen Tools machen Spaß, und so entsteht eine neue Kreativität. Selbst während des Lockdowns haben wir unsere Kundinnen und Kunden stabilisiert, teilweise sogar ausgebaut und neue Kundinnen und Kunden hinzugewonnen.
Wie reagieren Ihre Beschäftigten auf die neue Freiheit?
Portmann: Viele Beschäftigte äußerten den Wunsch, möglichst schnell wieder ins Büro zurückzukehren. Dann haben wir die Türen geöffnet, und kaum jemand kam. Das war sehr spannend für uns. Menschen, die außerhalb wohnen, freuen sich darüber, dass sie morgens noch eine Runde um den See laufen können und nicht im Stau mit allen anderen Pendlerinnen und Pendlern in die City fahren müssen. Wie Sie sehen, sind die Büros alles andere als verwaist. Die Menschen spüren, dass es ihnen guttut, wieder unter Menschen zu kommen, und dass das Büro nicht nur eine Arbeitsstätte, sondern auch eine Begegnungsstätte ist.

Den "Hirschen" im Büro dient der Wald als Inspiration: Theresa Hilbk vor einem Wandbild.
Foto: VBG/Jörn PollexWie läuft es denn für diejenigen, die ins Büro kommen?
Hilbk: Wer momentan kommt, hat sich im Vorfeld einen Platz reserviert und holt sich am Eingang eine Box mit den persönlichen Arbeitssachen ab. Zum Teil wurde in den Offices auch die feste Sitzplatzordnung abgeschafft, und die Büros wurden mithilfe von Architekten umgestaltet. Wir brauchen sowohl Möglichkeiten für stilles als auch für kollaboratives Arbeiten, zum Beispiel um Pitches vorzubereiten.
Je weniger Menschen gleichzeitig im Büro sind, desto weniger Fläche benötigen sie. Ist je nach Entwicklung dann an manchen Standorten mit einer Auflösung der Büros zu rechnen?
Portmann: Solche Fragen stehen jetzt natürlich im Raum. Das Simpelste wäre ja nun, die Fläche einfach auf die Hälfte zu reduzieren. So wird es bei uns aber nicht zwingend laufen. Wir möchten uns lieber über Modelle wie Untervermietung Gedanken machen. Das finden wir spannend, weil wir dann beispielsweise Unternehmen, mit denen wir in Projekten zusammenarbeiten, hier reinnehmen würden, um Synergien zu schaffen.
Hat die Abschaffung der Präsenzpflicht auch Auswirkungen auf Ihr Personalwesen?
Hilbk: Allerdings! Eine einzelne Vorgesetzte oder ein einzelner Vorgesetzter wird nicht aus der Ferne den Überblick behalten können. Daher muss das Team harmonieren und funktionieren. Es ist somit für uns noch wichtiger als vorher, beim Recruiting die Kolleginnen und Kollegen mit in die Auswahl einzubeziehen. Beim Onboarding haben wir ein Patenmodell entwickelt, bei dem sich Beschäftigte, die schon länger dabei sind, um die Neuzugänge kümmern. Außerdem verfügen wir über eine interne Schulungseinheit, in der wir uns explizit Themen wie „Führen auf Distanz“ und „Richtig Feedback geben“ annehmen. Führungskräfte brauchen nun noch mehr Sensibilität für mentale Themen.
Wie haben Sie die neuen Regelungen vertraglich festgehalten?
Hilbk: Aktuell haben unsere Mitarbeitenden in ihren Arbeitsverträgen die Agentur als vorgesehenen Arbeitsort stehen. Wir diskutieren gerade die Möglichkeiten, wie wir das Manifest formal integrieren. Grundsätzlich möchten wir unseren Beschäftigten die Möglichkeit geben, auch künftig mobil zu arbeiten, ihre Arbeitsleistung auch außerhalb der Agentur an einem oder mehreren wechselnden Orten ihrer Wahl zu erbringen. Das funktioniert jedoch selbstverständlich nicht grenzenlos, sondern nur unter Einhaltung verbindlicher „Spielregeln“, die in weiten Teilen sogar gesetzlich vorgeschrieben sind.
Wie halten Sie es persönlich mit der Anwesenheit im Büro?
Hilbk: Ich bin aktuell etwa einmal pro Woche im Kölner Büro. Sporadisch habe ich wieder angefangen, an die Standorte zu reisen, für die ich ja auch die Personalverantwortung trage – zumindest so weit, wie es das aktuelle Infektionsgeschehen zulässt bzw. zugelassen hat. Trotz aller Freiheit, die das mobile Arbeiten mit sich bringt, ist es auch sehr schön, die Kolleginnen und Kollegen mal wieder persönlich zu sehen.
Portmann: Ich habe die ersten Wochen des Lockdowns im Frühjahr zu Hause, aber auch mal ein paar Tage in meiner Ferienwohnung auf Langeoog verbracht. Denn auch dort lässt sich wunderbar produktiv arbeiten. Mittlerweile verbringe ich drei bis vier Tage im Büro, auch wenn es nicht unbedingt nötig ist. Nach einem Kundentermin ist es für mich oft einfach praktischer, ins Büro zu kommen. Trotzdem bin ich sicher: Dieses Gespräch hätte genauso gut per Videocall funktioniert. Wenn die Anzahl der Teilnehmenden überschaubar ist, gibt es für mich so gut wie keinen Unterschied.
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